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92 Peter Herde
Österreicher relativ niedriger, nichtakademischer und ärmlicher Herkunft musste er es
in der Gesellschaft meist akademisch-großbürgerlicher oder aus der höheren Beamten-
schaft stammender Söhne schwer haben. Und hinzukam, dass er getaufter Katholik, wenn
auch der Kirche längst entfremdet war. Die Nachwehen des „Kulturkampfes“ waren noch
stark. Da half ihm auch sein Nationalismus nichts. Als Ludwig Quidde 1894 seine be-
rühmte Parodie auf Wilhelm II. publizierte, stieß diese bei Chroust und seinen Kollegen
auf scharfe Ablehnung26. Als Erich Marcks 1913 nach München berufen wurde, wollte
er den Neuhistoriker Goetz auf dem mittelalterlichen Lehrstuhl neben sich haben, auf
alle Fälle jedoch eine Berufung des österreichischen „Katholiken“ Chroust von Würzburg
nach München verhindern, um nicht als Protestant drei katholischen Kollegen gegen-
überstehen zu müssen ; eventuell wollte er Brandi tolerieren, der katholisch getauft, aber
evangelisch verheiratet war27. In Leipzig nützte das freilich Brandi, den mit Goetz nicht
spannungsfreie freundschaftliche Beziehungen verbanden, 1915 nichts. Dorthin wurde
Goetz berufen, und er musste annehmen, obschon er Leipzig nicht mochte und gern nach
München gegangen wäre. Eberhard Gothein, der wie Goetz anerkannte, infrage gekom-
men wäre28, wurde nicht berücksichtigt, weil er Jude war. Schon in Leipzig sagte mir der
Dekan vertraulich, dass ich annehmen müsste, denn Deine [Brandis] Berufung sei nicht mög-
lich. Das bestätigte man mir im Dresdener Kultusministerium. Trotz meiner Einwände : es sei
unmöglich, im Lande der Reformation einen Katholiken als Historiker einzustellen29. Natür-
lich wurde nach außen ein „objektives“ Argument verbreitet : Brandis Interessen deckten
sich zu sehr mit denen Seeligers. Diesen Hintergrund wird man berücksichtigen müssen,
will man die Auseinandersetzungen in Würzburg verstehen. Sehr vielsagend ist die Be-
merkung von Goetz über seine Beziehungen zu Chroust : Chroust […], dessen Verhältnis
zu mir in einem Wechsel stärksten Abgestoßenseins und dann wieder langsam sich Zuneigens
besteht. Er ahnt drum wohl kaum etwas, wie ferne ich ihm stehe, selbst wenn ich mich dazu
zwinge, seine Freundlichkeiten zu erwidern30. Chroust versuchte also, ein gutes Verhältnis
zu Kollegen herzustellen, war aber dabei offensichtlich wenig erfolgreich. Immerhin hat
ihm die Münchner Universität die Neuhabilitation und damit 1898 die Berufung auf das
Würzburger Extraordinariat ermöglicht.
Kurz zuvor, gegen Ende 1897, hatte er jedoch sein großes mediävistisches Unterneh-
men, das ihn auch international bekannt machte, die Monumenta Palaeographica initi-
26 Goetz an Brandi : 12.06.1894 ; Weigand, Goetz (wie Anm. 25) 42, 43 Anm. 58. Über Quidde vgl. Utz-Frie-
debert Taube, Ludwig Quidde. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Gedankens in Deutschland
(Kallmünz 1963), über den ‚Caligula‘ ebd. 57ff.
27 Marcks an Goetz : 28.04.1913 ; Weigand, Goetz (wie Anm. 25)144f. mit Anm. 29.
28 Weigand, Goetz (wie Anm. 25) 151.
29 Goetz an Brandi : 27.08.1915 ; Weigand, Goetz (wie Anm. 25) 153.
30 Goetz an Brandi : 15.08.1894 ; Weigand, Goertz (wie Anm. 25) 43 Anm. 59.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 2
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 678
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien