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198 Hans Aurenhammer
Texten geht es nicht um eine konkrete, Beziehungen suchende kulturhistorische Kon-
textualisierung. Auch der späte Dvořák bleibt im Grunde Formalist, nur will er aus der
Analyse der künstlerischen Form unmittelbar den weltanschaulichen Sinn erschließen.
Die Form selbst ist, wie es im Bruegel-Aufsatz von 1920 heißt, „die Inkarnation des geis-
tigen Verhältnisses zur Umwelt“163. Schon Riegl hatte behauptet, dass das „Kunstwol-
len“ zu den anderen einzelnen Objektivationen des „Kulturwollens“ (Religion, Literatur,
Philosophie, Wissenschaft, Staat und Recht) „schlechtweg“ parallel organisiert sei164. Er
versagte den Kunsthistorikern jede diesbezüglich weiter gehende Spekulation und sah
dagegen in der Erfassung der „Weltanschauung“ die „Zukunftsaufgabe“ einer verglei-
chenden Kulturgeschichte165. Dvořák überschreitet diese methodische Grenze, indem
er als Kunsthistoriker allgemeine Formstrukturen zu geistesgeschichtlichen Kategorien,
zur „Weltanschauung“ in Beziehung setzt, etwa wenn er Höhendrang und Tiefenzug der
frühchristlichen Basilika als Ausdruck der die Materie transzendierenden christlichen
Weltflucht liest166.
Es ist eine alte Binsenwahrheit, dass die Gegenwartskunst uns […] die Augen für die künst-
lerischen Absichten der Vergangenheit öffnet167. So folgt Dvořák auch in der Neubewertung
El Grecos dem Urteil der modernen Künstler, für die der kretische Maler, vermittelt vor
allem durch Julius Meier-Graefe, zur Identifikationsfigur geworden war168. Der Aktua-
litätsbezug von Dvořáks letzter Wende ist offenkundig. Erregt sieht er im Manierismus
(ebenso wie im frühen Mittelalter) den Spiegel seiner eigenen krisenhaften Gegenwart :
„ein scheinbares Chaos, wie uns unsere Zeit als Chaos erscheint“169. Er vergleicht sogar
die Reformation des 16. Jahrhunderts mit der zeitgenössischen Bewegung „gegen den Ka-
pitalismus“, also mit der Revolution von 1917170. Dieses Chaos aber bedeute, so Dvořák
am Ende seines Greco-Vortrags, das Ende der materialistischen Kultur und scheine „nach
163 Dvořák, Bruegel (wie Anm. 12) 250.
164 Riegl, Spätrömische Kunstindustrie (wie Anm. 113) 400–405.
165 Alois Riegl, Naturwerk und Kunstwerk 1, in : ders., Gesammelte Aufsätze (Wien 1929) 49–61. Vgl. dazu :
Wolfgang Kemp, Alois Riegl (1858–1905), in : Altmeister moderner Kunstgeschichte, hg. v. Heinrich Dilly
(Berlin 1990) 47–51 ; De Marchi, Dvořák (wie Anm. 6) 115.
166 Dvořák, Geschichte der abendländischen Kunst im Mittelalter 1917/18 (wie Anm. 152) 279–281. Siehe
dazu Aurenhammer, Revision (wie Anm. 5).
167 Dvořák, Geschichte der abendländischen Kunst im Mittelalter 1917/18 (wie Anm. 152) 742.
168 Vgl. Veronika Schroeder, El Greco im frühen deutschen Expressionismus. Von der Kunstgeschichte als
Stilgeschichte zur Kunstgeschichte als Geistesgeschichte (Frankfurt/M. 1998) ; Johannes Rössler, Rhyth-
mus, Symbol des Lebens. Die deutsche El-Greco-Rezeption von den Anfängen bis zu Julius Meier-Graefes
‚Spanischer Reise‘ (1910), in : Marburger Jb. für Kunstwissenschaft 36 (2009) 391–411.
169 Dvořák, Greco (wie Anm. 138) 270.
170 Ebd. 269.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 2
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 678
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien