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Martin Wutte (1876–1948) 205
aber auch eine weite Brücke zurück ins Jahr 1335, als die Habsburger am 2. Mai dieses
Jahres von Kaiser Ludwig dem Bayern die Belehnung mit Kärnten, dem ältesten der ös-
terreichischen Herzogtümer, erwirken konnten. Dieses historische Ereignis, das da und
dort fälschlicherweise zum gedankenlosen Schlagwort ‚Kärnten 650 Jahre bei Österreich‘
gedieh, war die Voraussetzung für den teilweisen Gleichschritt, in den die Kärntner Ge-
schichte später mit der österreichischen geriet und als deren Spätfolgen zweifellos auch die
Ereignisse in Kärnten nach dem Ersten Weltkrieg zu betrachten sind.“18
Geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid und vermutlich kommt deshalb in der Kon-
frontations- und politischen Festtagskultur Kärntens mehr als in anderen Bundesländern
ein Kollektivismus zum Tragen19. Termini wie „Heimattreue“, „Landesbewusstsein“20
und „Landespatriotismus“ sind bei politischen Festtagen ein fester Bestandteil des Wort-
schatzes im öffentlichen Raum, wie auch Hinweise auf Einzigartigkeiten des Landes, wo
„Pomonens schönster Tempel steht“21. Wieweit ein derartiges Selbstbewusstsein ein Spe-
zifikum der Kärntner Gesellschaft widerspiegelt oder ein konstitutiver Faktor eines jeden
österreichischen Bundeslandes im Verhältnis zum politischen Zentrum Wien ist, das ist
bis heute allerdings nicht systematisch erforscht worden. Für und in Kärnten drängt sich
die Frage auf, ob einer der herausragendsten Landeshistoriografen, Martin Wutte, der
seiner Heimat nahezu bedingungslos verbunden war, tatsächlich nur dem „politischen
Empfinden einer breiten Öffentlichkeit“ gefolgt war oder ob er nicht selbst initiativ Ge-
schichtsbilder vorgegeben hat.
Der Kronzeuge, der aktiv in einem zentralen Hauptkapitel der „nationalen Frage“ – Grenz-
kampf und Volksabstimmung – als geistiger Mitstreiter involviert war, nahm zur Wechselbe-
ziehung von Politik und Wissenschaft jedenfalls einen klaren Standpunkt ein. 1946 konsta-
tierte er in einem privaten Schreiben, dem „jeder Blick auf eine Öffentlichkeit fehlt“22, an den
18 Alfred Ogris, Vorwort in : Wilhelm Wadl, Das Jahr 1945 in Kärnten (Klagenfurt 1985) 5f.
19 Beispielsweise : „Die Kärntner Geschichtswissenschaft würde sich einer schweren Unterlassungssünde schuldig
machen, wollte sie zu dieser von außen in das Land hereingetragenen Diskussion, die beträchtliche Unruhe
auslöste, nicht Stellung nehmen.“ Wilhelm Neumann, Abwehrkampf und Volksabstimmung in Kärnten
1918–1920. Legenden und Tatsachen (Kärntner Landesarchiv 2, Klagenfurt 21985) 9 ; ferner ders., in : Carin-
thia I, 166 (1976) 78 ; Beipiele für Reaktionen im Kollektiv, in : Carinthia I, 183 (1993) 670 ; ebd., 185 (1995)
611–612.
20 Vgl. dazu Claudia Fräss-Ehrfeld, Das Kärntner Landesbewußtsein, in : Kärnten. Von der deutschen
Grenzmark zum österreichischen Bundesland, hg. v. Helmut Rumpler unter Mitarbeit v. Ulfried Burz
(Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945, Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-
historische Studien der Dr. Wilfried-Haslauer-Bibliothek Salzburg 6/2, Wien/Köln/Weimar 1998) 777–801.
21 Teilvers der dritten Strophe des „Kärntner Heimatliedes“ (Landeshymne).
22 Wilhelm Neumann, Martin Wutte und sein Urteil über die nationalsozialistische Slowenenpolitik in Kärnten
und Krain aufgrund seiner Denkschrift vom 19. September 1943, in : Carinthia I, 176 (1986) 9–40, hier 22.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 2
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 678
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien