Page - 209 - in Österreichische Historiker - Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 2
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Martin Wutte (1876–1948) 209
lich die Quellenkritik. Das ist ein Beleg für die Vorstellung, wonach Geschichtsschreibung
eine staats- oder landespolitische Zweckfunktion zu erfüllen hat. Im gegenständlichen Fall
mag das daran liegen, dass Wutte selbst eine unmissverständliche Auffassung von einer
Funktion des Forschungsgegenstandes Geschichte hatte. Noch nach seinen Erfahrungen
mit dem politischen Alltag in der Habsburgermonarchie, in der Ersten Republik, im
Dollfuss-Schuschnigg-System, im „Großdeutschen Reich“, in der beginnenden Zweiten
Republik, hält der Historiker in seinem Lebenslauf unbeirrt fest : „1907 bis 1938 war
ich ehrenamtlicher Sekretär des Geschichtsvereines, dem der kulturhistorische Teil des
Landesmuseums gehörte. 1914 bis 1938 leitete ich ehrenamtlich die Mitteilungen des
Geschichtsvereines, die Carinthia I. Die großen, anscheinend entscheidenden Ereignisse,
denen wir entgegengingen, riefen in mir die Überzeugung wach, daß auch die Geschichts-
forschung der Gegenwart dienen müsse40. Darum war ich bestrebt, nicht bloß selbst so
viel als möglich solche Probleme zu behandeln, die die Zustände und Ereignisse der Ge-
genwart aus der Vergangenheit erklären, sondern auch Mitarbeiter für derartige Studien
zu gewinnen. Solche Mitarbeiter fanden sich nicht bloß für die Carinthia I, sondern auch
für verschiedene Gemeinschaftsarbeiten.“41 Der Standpunkt des Historikers, der sich an
einer zweckbestimmten Geschichtsforschung orientierte, deckt sich mit jenen Ansichten,
die für die Nationalgeschichtsschreibung des ausgehenden 19. bis zur Mitte des 20. Jahr-
hunderts richtungweisend waren ; – die Schriftleitung der Carinthia war dieser Tradition
offensichtlich noch im Jahr 1949 verpflichtet.
Der Eingriff in ein vom Autor selbst verfasstes Curriculum vitae ist aus zwei Grün-
den schwerwiegend. Erstens, weil eine eigenhändig geschriebene Lebensgeschichte nicht
nur über den beruflichen oder privaten Werdegang einer Person, naturgemäß aus deren
subjektiver Sichtweise, Auskunft gibt, sondern auch über besondere Interessen, Hobbys,
politische Aktivitäten und Weltanschauungen informieren kann. Zweitens : das Autograf,
am Lebensabend erstellt, ist eine authentische Quelle erster Ordnung, die entscheidende
Informationen enthalten kann, um mögliche Bekenntnisse oder Rechtfertigungen in ein
größeres Ganzes einzuordnen. Im Nachlass Wuttes war eine Instruktion, die darauf ab-
zielte, eine allfällige Veröffentlichung des Lebenslaufes an politische Gegebenheiten anzu-
passen, nicht auffindbar42.
40 Zu den postulierten Gegenwartsaufgaben der Geschichtswissenschaft vgl. Fritz Fellner, Geschichtsschrei-
bung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft (Wien/
Köln/Weimar 2002) bes. 13–35 und 145–172.
41 Wutte, Lebenslauf 1949 (wie Anm. 36) 6.
42 Im Typoskript (Kopie !) sind acht Auslassungszeichen bei Absätzen bzw. Zeilen eingefügt, die im Erstdruck
von „Mein Lebenslauf“ fehlen. Wer diese Korrekturzeichen setzte, konnte nicht eruiert werden. Vgl. KLA, NL
Wutte (= künftig NLW) Schachtel 1,6. In seinem Testament hielt Wutte fest : Der wissenschaftliche, handschrift-
liche Nachlass gehört dem Geschichtsverein, ebenso die dem Landesarchiv zur Aufbewahrung übergebene Sammlung
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 2
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 678
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien