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320 Martina Pesditschek
„auch der Bedürfnisse und derben Willenstendenzen der Männer und Völker als zugleich
natürlicher und geistiger Individualitäten“ begriffen und auch nicht hinlänglich bemerkt,
wie „das Überblutmäßige durch das Blutmäßige in der Geschichte immer wieder gebun-
den“ werde292. Wer so schreibt, muss sich wohl selbst für einen größeren Realisten als den
Gemaßregelten halten. Srbik und Meinecke hatten sich nun aber insbesondere in ihrer
Haltung zum Nationalsozialismus unterschieden ; demgemäß scheint Srbik sich hier just
eine realistischere Einschätzung dieser Bewegung als Meinecke zuzuerkennen. Das macht
nur und genau dann Sinn, wenn man nicht etwa den Nationalsozialismus als närrische
und wirklichkeitsfeindliche Ideologie auffasst, sondern vielmehr den NS-Standpunkt ein-
nimmt, gemäß dem den „derben Willenstendenzen“ von „brutaler“ Rotfront und Reak-
tion, Slawen und Weltjudentum realistischerweise nicht durch Ideen, sondern nur durch
„Taten“ wie die Einrichtung von Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie präven-
tive Angriffskriege Einhalt geboten werden konnte.
Aber selbst wenn sich Srbik hier ganz ohne solche Hintergedanken bloß einfach zum
historischen Realismus bekannt haben sollte – dies war offenbar zwingend geboten, um sich
Meinecke irgendwie als überlegen zu erweisen –, wirkt diese Stelle wie ein erratischer Block
inmitten seiner unzähligen Aufrufe zu Sittlichkeit, Ethos, Liebe und Gottesebenbildlich-
keit und nicht minder häufigen Elogen auf den „Geist“ ; ein erratischer Block293 freilich,
292 Ebd. 291–293.
293 Immerhin hat sich Srbik in seinen nicht (?) für die Öffentlichkeit bestimmten autobiografischen Aufzeich-
nungen von 1945–1946 zumindest einmal für eine Dosis von politischem Realismus ausgesprochen, was frei-
lich keineswegs mit einem Plädoyer für historischen Realismus gleichgesetzt werden kann. Bei Fellner,
Srbik (2002) (Bibl.) 339 liest man : „Srbik stand zwischen den Fronten, er fühlte sich abgestoßen von dem
Radikalismus des Hitler-Regimes, aber er vermochte es auch nicht, sich mit den radikalen Aktivitäten des
deutschen Widerstandes zu identifizieren. Ich habe, so bekannte er in seinen Erinnerungen, das Extrem in
keiner Hinsicht je geliebt. Es kam mit meiner Veranlagung für das dem denkenden Menschen erreichbare, be-
grenzte Maß von Gerechtigkeit und Objektivität nicht überein, es widersprach meiner Neigung für das Ebenmaß
und die ruhige Überlegung der Gegensätze, es widersprach auch der Dosis von politischem Realismus, die meinen
deutschen Idealvorstellungen beigemischt waren [sic][,] und es verletzte die mir im Blut liegende österreichische
Seite meiner Überzeugung.“ Leider geht aus diesem Zitat nicht hervor, ob Srbik an dieser Stelle seiner Er-
innerungen tatsächlich selbst die Bewegung des 20. Juli als „extrem“ abgelehnt hat oder ob nur Fellner die
Verbindung dieser Passage mit den Ereignissen des 20. Juli hergestellt hat. Einschlägig ist aber in jedem Fall
das nicht publizierte abschätzige Urteil Srbiks über Kaiser Karl, das bei Spitzmüller, Ursach (wie Anm.
154) 283f. überliefert ist : „Resümierend bemerkte Srbik, in einer solchen Lage müsse ein Herrscher Eisen
im Blut haben, und das habe eben […] Kaiser Karl gefehlt.“ Von den Trägern der Macht verlangte Srbik in
seinem gedruckten Werk üblicherweise Attitüden wie Ethos, Geistigkeit, Innerlichkeit und Liebe. Besagtes
Diktum Srbiks verstrickte den tiefgläubigen Katholiken Spitzmüller, der sowohl ein recht unkritischer Be-
wunderer Kaiser Karls als auch ein solcher Srbiks gewesen ist, in Gewissensnöte ; sehr zu Recht schreibt er
am angegebenen Ort : „Es bleibt die Frage offen, ob Eisen im Blut mit christlicher Nächstenliebe vereinbar
ist.“
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 2
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 678
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien