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21Einführung
Feldforschung verpÀichtete Methoden zurückgreifen. Sie müssen sich vielmehr auf einen
vielfältigen, qualitativ unterschiedlichen Quellenbestand stützen, der in den seltensten
Fällen – und dann wahrscheinlich auch nur für einen überschaubaren Zeitraum – an-
nähernde Vollständigkeit erreicht.116 Klassische Informationsquellen derartiger histori-
scher Studien sind Briefe, Tagebücher und Autobiogra¿en, die individuelle Beziehungs-
geÀechte als Grundlage größerer Zusammenhänge dokumentieren. Sie können unter
Berücksichtigung quellenkritischer Aspekte zur qualitativen Netzwerkanalyse dienen,
die, von einem so dokumentierten Teilbereich ausgehend, Rückschlüsse auf das Ãgroße
Ganzeµ ermöglicht, wobei zu berücksichtigen ist, dass z. B. autobiogra¿sche Textsorten
eine subjektive Sichtweise des jeweiligen Netzwerks wiedergeben, die sich von dem da-
mals real existierenden unterscheiden kann.
Netzwerke lassen sich auch innerhalb einzelner Berufsgruppen nachweisen, so etwa
bei den künstlerischen Berufen im Bereich von Theater und Musik. Darüber hinaus im-
plizieren sie Kommunikationsstrukturen, die sowohl innerhalb der jeweiligen Berufs-
gruppe als auch zwischen dieser und der Gruppe ihrer potenziellen Auftraggeber oder Re-
zipienten und deren Netzwerken funktionieren. Als politisch-diplomatische Beziehungs-
strukturen befähigen sie z. B. Musiker, als Mittler und Träger eines kulturellen Transfers
wirksam zu werden. Der Erforschung kultureller Übertragungsprozesse kommt in den
Geisteswissenschaften seit den Studien zum deutsch-französisch Kulturtransfer von
Michel Espagne und Michael Werner117 immer größere Bedeutung zu dieser theoretische
Ansatz wurde aber nicht in allen Disziplinen gleichermaßen rezipiert.
Die kulturwissenschaftlich begründeten Überlegungen der Netzwerk- und Kultur-
transferforschung können durchaus auf musik- bzw. opernhistorische Untersuchungen
Anwendung ¿nden, weil es auch hier darum geht, Beziehungsstrukturen aufzudecken.
Der italienische Opernbetrieb des 18. Jahrhunderts stellt in seiner Vielschichtigkeit aller-
dings eine besondere Herausforderung dar. Schon allein die Auswertung der überlieferten
Libretti im Hinblick auf einzeln oder in bestimmten personellen Konstellationen voll-
zogene Karriere-Etappen der Operisti ergibt eine Fülle von Daten zu Übertragungswegen
des Repertoires (geogra¿sch wie durch die Gesangssolisten selbst) und wechselnden
Ensemblezugehörigkeiten der Sänger. Sie lassen Strukturen erkennen, die in ihren Ver-
ästelungen am besten mit dem Begriff eines Netzwerks zu erfassen sind.118 Libretti sind
116 Hertner, Peter: Das Netzwerkkonzept in der historischen Forschung. Ein kurzer Überblick, in:
Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden 2011, S. 67–
86: 67 und 70.
117 Keller, Thomas: Kulturtransferforschung: Grenzgänge zwischen den Kulturen, in: Stephan Moebius/
Dirk QuadÀieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2011, S. 106
–119: 106.
118 Es wird aber auch deutlich, dass diese Beziehungsstrukturen im Laufe des 18. Jahrhunderts einem
Wandel unterlagen. Sängerpersönlichkeiten kam beispielsweise für die Verbreitung des Repertoires
der Opera buffa bis ca. 1760 größere Bedeutung zu als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts,
in der die Opern dank anderer, noch nicht gründlich erforschter Mechanismen zirkulierten. Siehe
Brandenburg, Daniel: Paisiello, Cimarosa e gli interpreti vocali: il mestiere degli operisti e la tra-
smissione del repertorio, in: Antonio Caroccia (Hg.), Commedia e musica al tramonto dell’ancien
régime: Paisiello, Cimarosa e i maestri europei, Avellino 2018, S. 19 –26.
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Die Operisti als kulturelles Netzwerk
Der Briefwechsel von Franz und Marianne Pirker, Volume 1 & 2
- Title
- Die Operisti als kulturelles Netzwerk
- Subtitle
- Der Briefwechsel von Franz und Marianne Pirker
- Volume
- 1 & 2
- Editor
- Daniel Brandenburg
- Publisher
- Österreichischen Akademie der Wissenschaften
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8898-8
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 1048
- Category
- Kunst und Kultur