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Einleitung
Opferdiskurse und Opfernarrative â und damit verbunden die Figur des Opfers â
haben in den vergangenen Jahrzehnten intensive wissenschaftliche wie auch
gesellschaftliche Debatten ausgelöst. GrundsÀtzlich lÀsst sich seit dem Ende
des Zweiten Weltkriegs insbesondere in den westlichen LĂ€ndern ein Paradig-
menwechsel beobachten, der â pointiert formuliert â einen âWandel von einem
Diskurs der Heroisierung zu einem Diskurs der Viktimisierungâ (Assmann 2013a,
144) einleitet. Das Deutsche kann diese Wende sprachlich allerdings nur schlecht
wiedergeben, enthĂ€lt der Begriff des âOpfersâ doch zwei unterschiedliche Bedeu-
tungsaspekte, die in anderen Sprachen lexikalisch klar getrennt sind. So umfasst
âOpferâ einerseits das aktiv dargebrachte Opfer, das im Kontext von Krieg und
Kampf als Heldentat verstanden wird und im Diskurs darĂŒber die Figur des poli-
tischen MĂ€rtyrers hervorbringt. Diesem im Englischen als sacrifice bezeichneten
heroischen Opfer steht andererseits das passive Opfer â engl. victim â gegenĂŒber,
dem durch Krieg, Verfolgung oder rassistisch und ethnisch motivierte Gewalt,
insbesondere im zwanzigsten Jahrhundert, Leid zugefĂŒgt wurde.
Die weitreichenden Implikationen dieses âpassive turn from sacrifice to victim
as current predominant semantics in the post-heroic, western societiesâ (Fischer
2006, 69) wurden in den letzten Jahren in den Kultur- und Sozialwissenschaften
intensiv diskutiert. So spricht unter anderem der Zeithistoriker Martin Sabrow
von einem gesamteuropĂ€ischen âParadigmen
wechsel von der historischen Heroi-
sierung zur historischen Viktimisierungâ, der eine Abkehr von den âhistorischen
MeistererzÀhlungen, die die Nation als Held darstellen, ihren Aufstieg feiern und
ihren Abstieg beklagenâ, mit sich bringt. An deren Stelle tritt die Figur des Opfers,
die das Interesse auf die âhistorischen Verletzungen, die Menschen erlitten und
Menschen verursacht habenâ (2012, 10), konzentriert. Die Hinwendung zum pas-
siven Opfer impliziert fĂŒr Sabrow jedoch weit mehr, manifestiert sich doch in
dieser Figur ein radikaler Wandel der politischen Gegenwartskultur, die inner-
halb kurzer Zeit ihre Ausrichtung auf die Zukunft aufgegeben und âdas zukunfts-
orientierte Leitbild des Fortschritts durch das vergangenheitsorientierte Leitbild
des GedĂ€chtnisses ausgetauscht hatâ (2012, 14). Auf diese Weise wird Erinnerung,
so Sabrow, zu einer Pathosformel des Umgangs mit der Vergangenheit im Sinne
von Aby Warburg â zu einem politischen Leitbegriff der Gegenwarts
kultur, der
politische GegensĂ€tze und Grenzziehungen zu ĂŒberwinden und einen politischen
und erinnerungskulturellen Rahmenkonsens herzustellen vermag. Nichts ver-
deutlicht den tiefgreifenden Zusammenhang zwischen dem gegenwÀrtigen Kult
um GedenkstÀtten und Gedenktage, Erinnerungsorte und Museen einerseits und
der Privilegierung des passiven Opfers in der gesellschaftlichen Wahrnehmung
Open Access. © 2020 Eva Binder, Christof Diem, Miriam Finkelstein, Sieglinde Klettenhammer,
Birgit Mertz-Baumgartner, Marijana MiloĆĄeviÄ, Julia Pröll, publiziert von De Gruyter.
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Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110693461-001
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Category
- LehrbĂŒcher