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14 Einleitung
„räumliche Konzept der Nachbarschaft“, das sich ebenfalls als erinnerungspoli-
tische Intervention Petrowskajas und als Plädoyer für eine transnationale nach-
barschaftliche Erinnerungsgemeinschaft erweist.
In ihrem Beitrag „Das Leiden der Anderen? Scheitern und Chancen dialogi-
schen Erinnerns in Goran Vojnovićs Jugoslavija, moja dežela“ stellt Eva Kowollik
fest, dass die postjugoslawischen Gesellschaften nach dem Krieg in den 1990er
Jahren noch immer kaum bereit sind, das „Leiden der Anderen“ anzuerkennen,
sondern den jeweils eigenen Opferstatus pflegen. Vor diesem Hintergrund setzt
sie sich mit dem Roman des slowenischen Autors Goran Vojnović Jugoslavija,
moja dežela [Jugo
slawien, meine Heimat] auseinander und geht der Frage nach,
inwiefern sich dieser Roman im Sinne von Aleida Assmanns „dialogischem Erin-
nern“ lesen lässt. Sie argumentiert, dass Vojnović die oben genannte Haltung
problematisiert und aufbricht. Dialogisches Erinnern findet im Roman auf der
Ebene des Diskurses statt. Die Hauptfunktion bezeugender Zuhörerschaft liegt
hier in der Übernahme von Verantwortung.
Ioannis Pangalos nimmt in seinem Beitrag mit dem Titel „Die Überwindung
traditioneller Opfernarrative in spanischen und griechischen Bürgerkriegsro-
manen seit den späten 1990er Jahren“ Bürgerkriegsromane der unmittelbaren
Gegenwart aus einer vergleichenden Perspektive in den Blick. Bevor er jedoch
auf die für eine ‚metamnemoniale Wende‘ besonders repräsentativen Texte
eingeht, gibt er – am Beispiel der griechischen Literatur – einen Überblick über
traditionelle literarische Opfernarrative, die bis in die 1980er Jahre dominierten.
Häufig wurden die betreffenden Texte ideologisierenden Lektüren, sei es seitens
des rechten oder des linken Lagers, unterzogen und zeugten dergestalt von einer
tiefen gesellschaftlichen Spaltung. Anhand von vier Romanen der unmittelbaren
Gegenwart – Soldados de Salamina von Javier Cercas, El lápiz del carpintero von
Manuel Rivas, Porphyra Gelia von Michel Fais und I Symphonia ton Oneiron von
Nikos Themelis – nimmt er in der Folge Strategien in den Blick, um die Dicho-
tomie zwischen Täter*innen und Opfern vor dem Hintergrund aktueller Erinne-
rungsdiskurse zu destabilisieren. Neben den Begriffen der Erinnerungsalterität
und des integrativen Gedächtnisses spielt vor allem die gedächtnisreflexive
Funktion innerhalb der Gedächtnis
gemeinschaft der Familie eine Rolle.
Anstelle eines Epilogs – ein Begriff, der aufgrund seiner erläuternden, klä-
renden Bedeutungsdimension der Komplexität und prinzipiellen Unabschließ-
barkeit von Täter- und Opfernarrativen nur mit Einschränkungen gerecht
würde
– kommt die zwischen Paris und Berlin lebende Autorin Cécile Wajsbrot1
1
Cécile Wajsbrot war im Mai 2019 als Writer in Residence an der Philologisch-Kulturwissen-
schaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck zu Gast. Der Abdruck des Textausschnitts erfolgt
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Category
- Lehrbücher