Page - 23 - in Opfernarrative in transnationalen Kontexten
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Eingeblendete NS-Opfernarrativeâ â
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Schein des Realen auflodern lĂ€Ătâ (2007, 121). FĂŒr Didi-Huberman sind es titel-
gebende Bilder trotz allem, weil â[d]iese Wendung [âŠ] einen RiĂ zum Ausdruck
[bringt]: Das alles verweist auf die Gewalt jener historischen Bedingungen, denen
wir noch nichts entgegenhalten konnten; das trotz widersetzt sich dieser Gewalt
durch die bloĂe heuristische Macht des SingulĂ€renâ (2007, 254). Eine Rezension
zu Bilder trotz allem motivierte Gerhard Richter wiederum, die vier Fotografien als
Vorlage seiner vierteiligen abstrakten Serie Birkenau von 2014 zu wÀhlen, worauf
geschabte, gekratzte und verwischte Farbschichten die Ablichtungen bedecken.
Einzig der Titel und die Werkgeschichte verdeutlichen Richters Opferdarstellung
als Abstraktion bei seiner handwerklichen Ăbertragung der Fotos auf LeinwĂ€nde.
Bereits seit den 1960er Jahren setzt sich der KĂŒnstler mit Aufnahmen aus Kon-
zentrationslagern auseinander, ohne jedoch zu einem âhandfestenâ Ergebnis zu
kommen. Richter wollte KZ-Fotografien in einer Ausstellung mit pornografischen
Ablichtungen zeigen, um ganz im Sinne Susan Sontags auf die sich schnell ein-
stellende voyeuristische Abstumpfung aufmerksam zu machen (Richter 2016;
Sontag 1995, 26). Seit September 2017 hÀngen vier digitale Reproduktionen der
Serie Birkenau im Westeingang des BundestagsgebÀudes. Nach Tal Sterngast
ĂŒbermitteln [sie] eine Simulation der GemĂ€lde, und stehen somit fĂŒr einen weiteren Dreh
im Hin und Her zwischen Fotografie und Malerei, dem Realen und dem Vorgestellten, der
schon mit den Originalen der bearbeiteten Fotos aus Birkenau beginnt, deren Negative
verschollen sind. Richter bringt die Fotos auf die Leinwand, und ĂŒbersetzt sie in ein Foto
zurĂŒck. Es ist typisch fĂŒr Richters Arbeitsweise, eine metaphorische Glasscheibe zwischen
Werk und Betrachter einzuziehen. (2017)
Hinzu kommt bei dieser Remedialisierung, dass sich die vier Bilder auf der Hoch-
glanzoberflĂ€che einer gegenĂŒberliegenden vertikalen Flagge, d.h. von Richters
Schwarz, Rot, Gold aus dem Jahre 1999 spiegeln. FĂŒr Nina Heindl und VĂ©ronique
Sina fungiert Richters Birkenau-Serie als âReprĂ€sentation âtrotz allemââ (2017),
worin zugleich die Kluft zu den und die Schnittstelle mit den fotografischen Vor-
lagen besteht.
Ein Àhnliches VerhÀltnis zu teils explizit erfundenen, teils in der Fiktion ver-
bĂŒrgten Aufnahmen lĂ€sst sich in literarischen Opfernarrativen ausmachen, die
aufgrund einer latenten Augenzeugenschaft von Nachkommen zwischen Sicht-
und Unsichtbarkeit, zwischen einer polysemantischen An- und Abwesenheit
der Opfer oszillieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn erzÀhlt wird, was die
Eltern- bzw. GroĂelterngeneration in den totalitĂ€ren Systemen Anfang bis Mitte
des zwanzigsten Jahrhunderts erlitt oder verbrach. In der nach Marianne Hirsch
(1997, 2001, 2012) sogenannten âGeneration of Postmemoryâ, der ersten, zweiten,
dritten Nachgeneration, kommen mangels â oft selbst fotografischer â Augen-
zeugenschaft oder ErzÀhlungen aus erster Hand, die allzu oft durch traumatische
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Category
- LehrbĂŒcher