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Gudrun Heidemann
len zu den Recherchen, von denen im vorliegenden Beitrag nur diejenigen aufge-
griffen werden können, die die Schilderungen am Anfang und Ende des Buches
flankieren.
Zu Beginn spekuliert der Ich-ErzĂ€hler ĂŒber Kindheitsaufnahmen, die im
Sommer 1942 an unterschiedlichen Erholungsorten in der NĂ€he Warschaus, in
der idyllischen Natur und Peripherie der okkupierten Hauptstadt entstanden. Zu
sehen sind hierauf die schaukelnde Schwester, das Geschwisterpaar am Fluss-
strand und der Bruder âna peronie w Otwocku. Krawat i czapeczka [i] [âŠ] te biaĆe
skarpetkiâ (Rymkiewicz 1992, 22) [âauf dem Bahnsteig in Otwock. Mit Krawatte
und MĂŒtze [und] [âŠ] diese weiĂen Sockenâ (Rymkiewicz 1993, 31)]. Laut Datierung
der Mutter stammt das Foto vom 19. Juli 1942, als es dem Ich-ErzÀhler zufolge dort
noch ein Getto gab (Rymkiewicz 1992, 22; Rymkiewicz 1993, 31).7 Daher offenbart
der Ich-ErzĂ€hler seiner Schwester, dass er ihre gemeinsame glĂŒckliche Kindheit
angesichts der diametral entgegengesetzten Parallelwelt in wenigen Kilometern
Entfernung als âcoĆ nieprzyzwoitegoâ (Rymkiewicz 1992, 23) [âungehörigâ (Rym-
kiewicz 1993, 32)] empfindet und nimmt hierbei imaginativ die Perspektive der in
ihren Ferien Abgelichteten ein, die unbeschwert in die Kamera blicken, wÀhrend
âw odlegĆoĆci nie wiÄkszej niĆŒ cztery kilometry odbywa siÄ to, co siÄ odbywaâ
(Rymkiewicz 1992, 23) [âin einer Entfernung von nicht mehr als vier Kilometern
geschieht, was damals geschahâ (Rymkiewicz 1993, 32â33)]. Indem die fotografi-
schen Posen des Geschwisterpaars, welche ungetrĂŒbte Kindheitstage bezeugen,
immer wieder mit dem GrĂ€uel in unmittelbarer NĂ€he, dem, âco tam siÄ odbywaĆoâ
(Rymkiewicz 1992, 26) [âwas geschehen istâ (Rymkiewicz 1993, 37)], kontrastiert
werden, erlangen die Aufnahmen eine belastende Polyvalenz des Sichtbaren.
Derart literarisiert gerÀt gerade das damalige Nicht-Sehen, das, was im fotogra-
fischen Off blieb, in den latenten Fokus. In Analogie hierzu stehen zum einen
die Versuche, den topografisch verschwundenen, aber sprachlich dokumentier-
ten Umschlagplatz zu rekonstruieren â ein Ort, der sich in Ă€hnlicher Weise in
ambiger Abwesenheit befindet wie die GrÀueltaten auf den Kindheitsfotos. Zum
anderen lösen gerade Letztgenannte imaginativ eine fotocollagenhafte Gegen-
ĂŒberstellung aus, welche den Ich-ErzĂ€hler von der idyllischen Peripherie an den
Ort des damaligen GrĂ€uels zurĂŒckfĂŒhrt: âZdjÄcie, ktĂłre wszyscy znajÄ
: chĆopiec w
8â9), in der deutschen Ăbersetzung zudem des Warschauer Gettos abgedruckt (Rymkiewicz
1993, 10â11).
7â
Ăber das Getto von Otwock schreibt Calel (Calek) Perechodnik in seiner persönlichen Chronik
von 1943, in der er sich selbst die Schuld an dem Tod seiner Frau und seiner kleinen Tochter
zuweist, da er allzu leichtglÀubig und naiv meinte, beide seien durch seine TÀtigkeit als Getto-
Polizist geschĂŒtzt (Perechodnik 1993, 2015).
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Category
- LehrbĂŒcher