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28    Gudrun Heidemann
lich geschildert (Rymkiewicz 1992, 244–245; Rymkiewicz 1993, 326–327). Zudem
erlangt der Junge in Umschlagplatz eine namentliche Biografie10 als ebenso wie
der Ich-Erzähler 1935 geborener Artur.
Artur jest moim rówieśnikiem […]. Stoimy obok siebie, on na tym zdjęciu zrobionym w war-
szawskim getcie, a ja na zdjęciu zrobionym na wysokim peronie w Otwocku. […] On w pod-
kolanówkach, ja w białych skarpetkach. (Rymkiewicz 1992, 245)
Artur ist mein Altersgenosse […]. Wir stehen nebeneinander, er auf diesem Bild, das im
Warschauer Ghetto gemacht wurde, und ich auf dem Bild, das auf dem hohen Perron in
Otwock aufgenommen wurde. […] Er trägt Kniestrümpfe, ich weiße Socken. (Rymkiewicz
1993, 327–328)
Das zuvor fotografisch Absente verdichtet sich in der Shoah-Ikone des Gleichalt-
rigen, dem der Ich-Erzähler mit seiner Aufnahme vom Ferienbahnhof in sekun-
därer und hierbei einzig lichtbildlich motivierter Augenzeugenschaft gegenüber-
tritt. Nachträglich weist sich der Ich-Erzähler in der fiktiven Fotocollage jedoch
als Augenzeuge aus, der nicht wegsieht, sondern emphatisch agiert:
– Zmęczyłeś się – mówię do Artura. – To przecież musi być bardzo niewygodne: takie stanie
z podniesionymi do góry rękami. To zróbmy tak. Teraz ja podniosę ręce, a ty je opuścisz. I
może oni tego nie zauważą. Albo wiesz, co. Zrobimy inaczej. Obaj będziemy stać z podnie-
sionymi do góry rękami. (Rymkiewicz 1992, 246)
Du bist müde, sage ich zu Artur. Das muß doch sehr anstrengend sein: die ganze Zeit mit
erhobenen Armen dazustehen. Machen wir das so. Nun werde ich die Arme heben, und du
nimmst sie herunter. Vielleicht bemerken sie das gar nicht. Oder, weißt du was. Machen wir
es anders. Wir stehen beide mir erhobenen Armen da. (Rymkiewicz 1993, 328)
Die imaginierte Anrede des Getto-Jungen suggeriert, dass sein verschonter Alters-
genosse ihm die Last der Unterdrückung und Bedrohung zwar nicht abnehmen,
sie jedoch mit ihm teilen kann. Dass dieser etwas schwülstige Wiedergutma-
chungsversuch mittels einer fiktiven Fotocollage erfolgt, weist die so unterschied-
lichen Ablichtungen als genauso differente apparative Augenzeugnisse aus. Sie
können – je nach Betrachtung – ebenso eine Evidenz des Gräuels, jedoch auch
seiner Abwesenheit aufweisen wie eine Latenz, in der gerade das durchschim-
mert, was im fotografischen Off liegt. Narrativ gewinnen sowohl der Abzug aus
dem persönlichen Fotoalbum als auch das ikonische Shoah-Bild ein derartiges
10  Nach heutigen Erkenntnissen ist die Identität des Jungen nicht eindeutig feststellbar. Die von
Rymkiewicz zugeschriebene Biografie von Artur SiemiÄ…tek ist Raskin (2004) zufolge eine von
vier Möglichkeiten.
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Category
- Lehrbücher