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Die Geschichte des/der Anderenâ â
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und des Verbrechens bezichtigt und ihnen den Opferstatus aberkennt, obwohl
den vergleichsweise wenigen Partisan*innen nicht zuletzt der Staatsvertrag zu
verdanken ist. Die auch politisch erzeugte Denunzierung kÀrntner-slowenischer
WiderstandskĂ€mp fer*innen als VerrĂ€ter*innen und âKameradenmörderâ dient
der Instrumentalisierung einer ganzen Volksgruppe als Feindbild, um einerseits
die eigene MittÀterschaft (das Böse im Eigenen) zu verdrÀngen, andererseits um
eine positive Identifikation mit dem Widerstand zu verhindern (Amann 2013,
89). Wie die Untersuchung von Amann zeigt, wurden literarische Texte ĂŒber die
traumatischen Erlebnisse dieser Gemeinschaft bis zum Erscheinen des Romans
von Haderlap in der Ăffentlichkeit kaum rezipiert, so dass die von ihnen erlebte
Gewalterfahrung nicht zu Gehör kommen konnte. Diese GedĂ€chtnislĂŒcke schlieĂt
nun der Roman Engel des Vergessens, dem es gelang, eine radikale VerÀnderung
öffentlicher Erinnerungsdiskurse zu erwirken (vgl. dazu Wintersteiner 2019).
SchlieĂlich muss der Blick auf Migrationsprozesse gelenkt werden, die mit
einer zusÀtzlichen Pluralisierung von Erinnerungsformen von einst monokul-
turell vorausgesetzten Erinnerungskulturen einhergehen. Hier manifestiert sich
also die dritte Konfliktlinie österreichischer Erinnerungs
kulturen zwischen den
dominanten Narrativen einer Mehrheitsgesellschaft und der Perspektive von
Zugewanderten, die dank ihrer verfremdenden Wahrnehmung â wie Grabovszki
bemerkt (2009, 290) â einen neuen Blick auf Ăsterreich erlauben und zu einer
Umstrukturierung bestehender Wissensordnungen und Deutungsmuster sowie
zur Destabilisierung gesellschaftlicher Selbst- und Fremdkonzepte beitragen
können.
Die Verbindung von Erinnerung und Migration berĂŒhrt in unserem Kontext
noch eine weitere Problematik, nÀmlich, inwieweit Immigrant*innen in eine
nicht nur nationalisierte, sondern auch âethnisierteâ Erinnerungskultur einge-
bunden werden können/sollen, die die Erinnerung an die NS-Zeit als eine spe-
zifisch deutsche bzw. österreichische Angelegenheit definiert (Assmann 2013,
128â129). Der Roman von Sadr ist in dieser Hinsicht von besonderem Interesse,
weil er sich nicht nur souverĂ€n in das ursprĂŒnglich stark national definierte kol-
lektive GedÀchtnis einschreibt, sondern durch das Aufzeigen von strukturellen
Ăhnlichkeiten zwischen Antisemitismus und Rassismus (vgl. dazu auch Mitter-
bauer 2011, 238) und deren Ausgren
zungsmechanismen auf ein zentrales Defizit
westeuropÀischer Gesellschaften aufmerksam macht, nÀmlich den Verlust der
GrundsolidaritĂ€t mit Mitmenschen (vgl. dazu auch Assmann 2013, 138â139). Bei
der Ăffnung und nicht zuletzt auch Demokratisierung von Erinnerungskulturen
ist deshalb eine multidirektionale Erinnerung von zentraler Bedeutung, d.h. die
Anerkennung der Wechselseitigkeit und der dialogischen Natur der Erinnerun-
gen, wobei die scharfe Trennung von âeigenerâ und âfremderâ Erinnerung aufge-
hoben ist. Erst wenn der öffentliche Raum â im Sinne Rothbergs â nicht lĂ€nger als
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Category
- LehrbĂŒcher