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Die Geschichte des/der Anderenâ â
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Am ErzÀhlort, der als literarischer Ort, als GedÀchtnisort und als konkreter
Ort des Schreibens gleichzeitig fungiert, werden gesellschaftliche und indivi-
duelle Prozesse des Erinnerns und Vergessens gleichsam reflektiert. WĂ€hrend
Ardi das Otto-Wagner-Spital als einen âfotofreie[n], kriegszeitfreie[n] Ortâ (GS,
28) betrachtet, wo er vergessen kann, ist ausgerechnet dieser Ort alles andere als
geschichtsneutral, steht doch der vom Autor ganz bewusst gewÀhlte ehemalige
Ort namens Spiegelgrund fĂŒr die in der Nervenheilanstalt verĂŒbten NS-Verbre-
chen an Kindern und Jugendlichen (vgl. auch Mitterbauer 2011, 238). Als literari-
scher Ort verweist er u.a. auf Thomas Bernhard, auf dessen geisteskranke Figuren
Sadr intertextuell Bezug nimmt, um die Ich-Dissoziation von Ardi und dessen
Wahn als Reaktion auf die gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse zurĂŒckzufĂŒhren.
Dieses Leiden an den Menschen angesichts deren Zerstörungswut und Tötungs-
lust ist ein Motiv, das auch Ingeborg Bachmann in ihrem Berlin-Essay Ein Ort fĂŒr
ZufÀlle aufgreift, in welchem die Krankheit Àhnlich zum Roman Der GedÀchtnis-
sekretĂ€r ein âIneinanderrutschenâ von Orten und Zeiten provoziert: In beiden
FĂ€llen âerzwingtâ â so Bachmann â die BeschĂ€digung der Stadt âeine Einstel-
lung auf Krankheit, auf eine Konsequenz von variablen Krankheitsbildern, die
Krankheit hervorruftâ (Bachmann 1978, 279). Die Prosa von Bachmann und Sadr
mag zwar halluzinatorisch erscheinen, vermag jedoch in dieser âRadikalisierung
der Darstellungâ (Bachmann 1978, 279) einen exakten Befund ĂŒber die Situation
des Menschen in einer Gesellschaft zu vermitteln, die gerne jene Stimmen an die
RÀnder verbannt, die auf den immerwÀhrenden Krieg in der jeweiligen Gegen-
wart aufmerksam zu machen wagen.
Der Spiegelgrund als ErzÀhlort weist somit nicht nur auf die historische und
gesellschaftliche Bedingtheit von Ardis Krankheit, sondern auch â Ă€hnlich wie
bei Haderlap â auf die Prozesse des Ausschlusses jegliches Fremden aus dem
österreichischen GedĂ€chtnis hin: auf die Exklusion des âfremdenâ Ardi und mit
ihm auf die Exklusion des Traumatischen als die eines unheimlichen Anderen,
das auĂerhalb des Diskurses steht, von dem die RealitĂ€t jedoch immer wieder
heimgesucht wird. Zugleich ist der Ort ein individueller traumatischer Ort fĂŒr den
ErzÀhler, der, aus dem Sinnzusammenhang seiner Heimat und Familie herausge-
löst und durch die Erlebnisse in Wien, eine radikale Entwurzelung erfÀhrt. Auf
diese Weise werden hier das Unheimliche der Gewalttaten und der Verlust der
Heimat miteinander verschrĂ€nkt â eine VerschrĂ€nkung, die die existenzielle Hei-
matlosigkeit von Menschen im Exil offensichtlich werden lĂ€sst: âdie NĂ€he von
unheimlich und Heimweh macht mir da groĂe Probleme. Wenn ich unheimlich
sagen wollte, fiel mir sogleich der Flakturm in der Stiftkaserne ein. Beim Wort
Heimweh standen die BĂ€ume meiner Heimatstadt vor mirâ (GS, 29). Die Verbin-
dung des Unheimlichen mit der Heimat verweist aber auch auf eine Erinnerung,
die Ardi verdrÀngt, nÀmlich auf die Gewaltgeschichte seines Heimatlandes, die
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Category
- LehrbĂŒcher