Page - 99 - in Opfernarrative in transnationalen Kontexten
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Anerkennung als Opfer und Überwindung von Viktimisierungen:
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Die Protagonisten stehen […] auf der Bühne für sich selbst und spielen zugleich eine Rolle.
Wirklichkeit wird nicht abgebildet, sondern findet als Wirklichkeit Eingang in das Theater.
Dabei werden […] Realität und Fiktion miteinander verwoben und auf diese Weise übliche
Kriterien für Echtheit versus Theatralität in Frage gestellt. (Dreysse und Malzacher 2007,
10–11)
Die Körper der Darsteller*innen spielen dabei eine zentrale Rolle, wie Boris
Nikitin konstatiert:
In der ‚Ich‘-Aussage der Darsteller verschmelzen Person und Biografie. Der auf der Bühne
stehende Körper ist deren materieller Bezugspunkt. Er ist selbst ein Dokument. Körper,
Name und Biografie beglaubigen sich gegenseitig. (Nikitin 2014, 14)
In Inszenierungen von Stücken, deren Texte auf Interviewmaterial beruhen, aber
von Schauspieler*innen gesprochen werden, fehlt diese Verschmelzung.
In Urteile und Die Lücke liegen Charakteristika dokumentarischen Thea-
ters in unterschiedlicher Ausprägung vor. Beide Texte und ihre Inszenierungen
ergreifen Partei und erinnern somit an das Weiss’sche Konzept: Sie entstanden,
weil die Theaterschaffenden eine mangelnde Repräsentation der Angehörigen
der Opfer des NSU bzw. der von Gewalttaten des NSU Betroffenen nach der Selbst-
enttarnung des NSU im Jahr 2011 beobachteten. Calis und Umpfenbach schildern
ihre Beweggründe folgendermaßen:
[D]iese Leute [i.e. die Betroffenen des Sprengstoffanschlags auf der Keupstraße] haben
keine Lobby. Also wenn man das jetzt mit den Opfern der RAF vergleichen könnte … ein
Alfred Herrhaus und Bubak, der Generalbundesstaatsanwalt – als diese Menschen gestor-
ben sind, hatten sie eine Lobby, die dagegen vorgehen konnte: Was ist da passiert? Und
diese Leute kommen teilweise aus prekären Verhältnissen, da kann sich keiner ’nen Anwalt
grad mal so leisten. Die Scheiben, die da kaputtgegangen sind, das mussten sie alles unter
großen Opfern der eigenen finanziellen Lage auf die Beine stellen. Leute haben teilweise ihr
ganzes Hab und Gut verkauft, damit sie ihr Geschäft weiter am Laufen … weil es gab keine
Entschädigung. Und ich hatte das Gefühl, dass niemand für die spricht und mein großer
Ansatz war, dass ich denen ein Podium schaffen muss, in dem sie zur Geltung, zu ihrem
Recht kommen. (Calis 2014b)
[Es] ekelt mich, überall diese Fotos von den Tätern sehen zu müssen. […] [M]ich interessiert
viel mehr die Perspektive der Angehörigen, von denen viele es erschreckend finden, wie
stark sie in den Hintergrund gerückt sind. (Umpfenbach, zitiert nach Vetter 2014)
Die beiden Theaterschaffenden argumentieren hinsichtlich ihrer Motivation also
ähnlich, wählen jedoch unterschiedliche Bezugsgruppen, um die mangelnde
Repräsentation der Angehörigen und Betroffenen im Kontext der NSU-Berichter-
stattungen zu illustrieren: Calis verweist mit den Opfern der RAF auf eine (auch
sozioökonomisch) andere Opfergruppe in der Geschichte der BRD, während
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Category
- Lehrbücher