Page - 100 - in Opfernarrative in transnationalen Kontexten
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100â â Anna Brod
Umpfenbach die mediale PrĂ€senz der NSU-TĂ€ter*innen kritisiert. Ăber die Par-
teinahme hinaus streben beide Theaterschaffende eine âVerĂ€nderung von ReprĂ€-
sentationsverhĂ€ltnissenâ (Tretter 2016, 101) an, indem sie die in anderen Medien
verbreitete âWahrheitâ ergĂ€nzen, wenn sie die TheaterbĂŒhne zu einer Plattform fĂŒr
das Sprechen von Betroffenen machen.
Nicht nur aufgrund dieses politischen Anspruchs, sondern auch ĂŒber die
Arbeitsweise Umpfenbachs und Calisâ lassen sich Urteile und Die LĂŒcke in einer
entsprechenden Strömung des zeitgenössischen dokumentarischen Theaters ver-
orten: Beide Theaterschaffenden arbeiten mit nicht-literarischen Materialien und
greifen dazu auf konzeptionell und medial mĂŒndliche Texte statt auf schriftliche
Dokumente zurĂŒck. Sowohl Urteile als auch Die LĂŒcke basieren auf Audioaufnah-
men von GesprÀchen, aus denen die Autorin und der Autor Textcollagen erstell-
ten, die sie mit weiteren Materialien anreicherten.
Der Theatertext von Urteile basiert auf ca. zwanzig Interviews, die das Team
um die Autorin und Regisseurin Christine Umpfenbach und die Soziologin Tunay
Ănder im Zeitraum von beinahe zwei Jahren mit Angehörigen und Freunden
der beiden MĂŒnchner Mordopfer des NSU gefĂŒhrt hat (Hallmeyer 2014). Faktu-
ale Texte und âpoetische[âŠ] Skizzenâ (Koschwitz 2016, 7) von Azar Mortazavi,
in denen Situationen von Alltagsrassismus beschrieben werden, ergÀnzen die
aus dem ausfĂŒhrlichen Interviewmaterial fĂŒr den Theatertext ausgewĂ€hlten, zu
Szenen angeordneten und anonymi
sierten Textpassagen. In Umpfenbachs Insze-
nierung am Residenztheater MĂŒnchen stellen professionelle Schauspieler*innen
die Angehörigen und Freund*innen der vom NSU Ermordeten dar, deren Perspek-
tiven der Text prÀsentiert. Einzelne Elemente der Inszenierung dienen dazu, auf
den dokumentarischen Charakter âund damit die Chancen und Problematiken
[des] Entstehungsprozesses, [des] projekthaften Charakters und [des] komplexen
VerhĂ€ltnisses zu RealitĂ€t und Wirklichkeitâ (Tretter 2016, 87) zu verweisen, wie
Antonia Tretter beobachtet: Das Nachstellen von Interview
situationen auf der
BĂŒhne thematisiere den Prozess der Materialsammlung, die in Form von Ordnern
und TextbĂŒchern auf einem âkleine[n], aber zentral platzierten Arbeitstisch
in der Mitte der hinteren BĂŒhnenhĂ€lfteâ (Tretter 2016, 91â92) auch materiell in
Teilen vorhanden ist.
Im Unterschied zu Urteile sind in der Kölner Inszenierung von Die LĂŒcke
neben drei Schauspieler*innen auch drei nicht-professionelle Darsteller*in
nen
beteiligt, die zur Zeit des Anschlags in der KeupstraĂe wohnten oder arbeiteten
und deren Körper in der Inszenierung als Beglaubigungsinstanzen neben dem
Text fungieren (Nikitin 2014, 14). Die erste Begegnung der beiden Gruppen und
Ausschnitte der dabei gefĂŒhrten GesprĂ€che werden â teilweise zugespitzt â auf
der BĂŒhne dargestellt. Die Inszenierung enthĂ€lt somit Merkmale eines kĂŒnstle-
rischen Reenactments, bei dem vergangene Ereignisse in einem kĂŒnstlerischen
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Category
- LehrbĂŒcher