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Anerkennung als Opfer und Überwindung von Viktimisierungen:
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Sibylle Krämer kann man davon sprechen, dass es so möglich wird, den darge-
stellten Personen Vertrauen entgegenzubringen und ihre Erfahrungen als Zeug-
nisse anzunehmen (2011, 136). Wenn sich die Bestätigung auf die bezeugende
Person selbst und ihre Identität und Integrität bezieht (Krämer 2011, 136), geht
das Annehmen des Zeugnisses mit der Anerkennung der Person einher.
In der Inszenierung wird dieses Moment auch unabhängig von konkreten
Apostrophierungen zum Thema gemacht: Die Schauspieler*innen sprechen mit
ständigem Blickkontakt zum frontal und seitlich sitzenden Publikum und binden
es so in die Kommunikation als Gegenüber ein. Daneben wird wiederholt auch
der Akt des Zuhörens auf der Bühne dargestellt. Die Zuhör-Zuschau-Situation, in
der auch das Theaterpublikum ist, wird auf der Bühne verdoppelt und somit per-
formativ mit Bedeutung aufgeladen. Den Theaterzuschauer*innen wird auf diese
Weise ein Beispiel für das Annehmen des Zeugnisses und die Anerkennung der
sprechenden Person im gleichzeitigen Hör- und Sprechakt gezeigt.
3.2 Die Lücke – Von Viktimisierung zu produktiver
Auseinandersetzung
Das Theaterprojekt Die Lücke: Ein Stück Keupstraße thematisiert den bei der
Uraufführung am 7. Juni 2014 am Schauspiel Köln beinahe bis auf den Tag genau
zehn Jahre zuvor verübten Anschlag mit einer Nagelbombe am 9. Juni 2004,
zu dem sich der NSU per Video bekannt hat. Die individuellen Erfahrungen
von unmittelbar Betroffenen des Anschlags in der Keupstraße sind nur eines
von mehreren Elementen des Theaterprojekts, bei dem in verschiedener Hin-
sicht Kontakte zwischen dem Theaterpublikum, das Calis als „stellvertretend
für eine Mehrheitsgesellschaft, für eine gut aufgeklärte Mittelschicht“ (2014b)4
begreift, und Anwohner*innen der Keupstraße als Repräsentant*innen von
Betroffenen rassistischer Gewalt, aber auch von unterschiedlichen Generatio-
nen von (Post)Migrant*innen angebahnt bzw. gezeigt werden. So konnten die
Theaterzuschauer*innen zunächst im Rahmen einer ca. 45-minütigen Führung
über die Keupstraße mit Anwohner*innen, die diese Führungen leiteten, ins
Gespräch kommen und diesen Fragen stellen. Im zweiten Teil der Inszenierung,
der eigentlichen Aufführung des Theaterstücks im Depot 2 des Schauspiel Köln,
wird Theaterzuschauer*innen ein Beispiel für eine Kontaktaufnahme von Mit-
gliedern der Mehrheitsbevölkerung und Personen aus Einwanderungsfamilien
4 Allerdings ist auch ein türkischsprachiges Publikum angesprochen, wie das zwei
sprachige Pro-
grammheft und das Angebot von Führungen in türkischer Sprache über die Keupstraße zeigen.
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Category
- Lehrbücher