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Ein Dorfpostamt in Österreich unterscheidet sich wenig vom andern: wer
eines gesehen, kennt sie alle. In der gleichen franziskojosephischen Zeit aus
dem gleichen Fundus mit den gleichen kärglichen Einrichtungsgegenständen
bedacht oder vielmehr uniformiert, entäußern sie allerorts den gleichen
mürrischen Eindruck ärarischer Verdrossenheit, und bis unter den Atem der
Gletscher, in die abgelegensten Gebirgsdörfer Tirols bewahren sie hartnäckig
jenen unverkennbaren altösterreichischen Amtsgeruch aus kaltem Knaster
und muffigem Aktenstaub. Überall ist die Raumeinteilung die gleiche: in
einem genau vorgeschriebenen Verhältnis teilt eine vertikale, mit
Glasscheiben durchbrochene Holzwand das Zimmer in ein Diesseits und
Jenseits, in eine allgemein zugängliche und in die dienstliche Sphäre. Daß der
Staat auf ein längeres Verweilen seiner Bürger innerhalb der allgemein
zugänglichen Abteilung geringes Gewicht legt, wird durch das Fehlen von
Sitzgelegenheiten und jeder sonstigen Bequemlichkeit augenfällig. Als
einziges Möbel lehnt im Publikumsraum meist nur ein zittriges Stehpult
ängstlich an der Wand, den rissigen Wachsleinwandüberzug von unzähligen
Tintentränen geschwärzt, obwohl sich niemand erinnern kann, jemals in dem
eingesenkten Tintenfaß etwas anderes als eingedickten, mulmigen,
schreibuntauglichen Brei wahrgenommen zu haben, und wenn zufällig eine
Feder zur Stelle in der gehöhlten Rinne liegt, so erweist sie sich zuverlässig
als abgespragelt und schreibuntauglich. Ebensowenig wie auf Komfort
legt das sparsame Ärar auf Schönheit Gewicht: als künstlerischer
Raumschmuck könnten, seit die Republik das Bild Franz Josephs abgeräumt
hat, höchstens die Plakate angesprochen werden, die grellfarbig auf der
schmutzigen Kalkwand zu längst geschlossenen Ausstellungen, zum Ankauf
von Lotterielosen und in manchen vergeßlichen Amtsstuben sogar noch zur
Zeichnung von Kriegsanleihen einladen. Mit dieser billigen Wandfüllung und
allenfalls einer von niemand beachteten Aufforderung, nicht zu rauchen, ist
die Generosität des Staates im Publikumsraume zu Ende.
Respektheischender dagegen repräsentiert sich die Abteilung jenseits der
dienstlichen Schranke. Hier entfaltet im engsten Beieinander der Staat
symbolisch die unverkennbaren Zeichen seiner Macht und Weiträumigkeit. In
der geschützten Ecke steht ein eiserner Geldschrank, und die Vergitterung der
Fenster läßt vermuten, daß er zeitweilig wirklich gelegentlich beträchtliche
Werte birgt. Auf dem Lauftisch blinkt als Prunkstück ein Morseapparat in
wohlgescheuertem Messing, bescheidener schläft daneben auf schwarzer
Nickelwiege das Telefon. Diesen beiden allein ist ein gewisser Lust- und
Respektsraum zugeteilt, denn sie verbinden, an Kupferdrähte angeschlossen,
das winzige und abseitige Dorf mit den Weiten des Reichs. Die andern
Utensilien des postalischen Verkehrs jedoch müssen sich zusammendrängen,
Paketwaage und Briefsäcke, Bücher, Mappen, Hefte, Registratur und die
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik