Page - 5 - in Rausch der Verwandlung
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Denn jeder Gegenstand innerhalb dieser SphĂ€re, der sich abnĂŒtzt oder
verschwindet, der sich verwandelt und zerfÀllt, wird durch ein anderes
Exemplar genau derselben Type von der vorgesetzten Behörde angefordert
und geliefert und somit dem Wandelhaften der ĂŒbrigen Welt ein Beispiel der
Ăberlegenheit des Staatlichen gegeben. Der Inhalt verflieĂt, die Form bleibt
bestÀndig. An der Wand hÀngt ein Kalender. Jeden Tag wird ein Blatt
abgerissen, sieben in der Woche, dreiĂig im Monat. Ist am 31. Dezember der
Kalender dĂŒnn und zu Ende, so wird ein neuer angefordert, gleichen Formats,
gleicher GröĂe, gleichen Drucks: das Jahr ist ein anderes geworden, der
Kalender derselbe geblieben. Auf dem Tisch liegt ein Abrechnungsbuch mit
Kolonnen. Ist die Seite links volladdiert, so wird der Betrag auf der rechten
Seite weitergefĂŒhrt, und so von Blatt zu Blatt. Ist das letzte vollgeschrieben
und das Buch beendet, so wird ein neues begonnen, gleicher Type, gleichen
Formats, vom frĂŒheren nicht zu unterscheiden. Was verschwindet, ist am
nÀchsten Tage wieder da, gleichförmig wie der Dienst, und so liegen auf
derselben Holzplatte unabÀnderlich die gleichen GegenstÀnde, immer wieder
die gleichförmigen BlÀtter und Bleistifte und Spangen und Formulare, immer
andere und immer die gleichen. Nichts verschwindet in diesem Àrarischen
Raum, nichts kommt hinzu, ohne Welken und BlĂŒhen herrscht hier dasselbe
Leben oder vielmehr derselbe andauernde Tod. Einzig der Rhythmus der
Abnutzung und Erneuerung bleibt innerhalb der vielfÀltigen Reihe der
GegenstÀnde verschieden, nicht ihr Schicksal. Ein Bleistift dauert eine
Woche, dann ist er zu Ende und wird durch einen neuen, gleichen ersetzt. Ein
Postbuch dauert einen Monat, eine GlĂŒhbirne drei Monate, ein Kalender ein
Jahr. Dem Strohsessel werden drei Jahre zugemessen, ehe er erneuert wird,
dem Jemand, der auf diesem Sessel sein Leben absitzt, dreiĂig Dienstjahre
oder fĂŒnfunddreiĂig, dann wird ein neuer Jemand auf den Sessel gesetzt. Im
letzten ist kein Unterschied.
In der Amtsstube Klein-Reifling, einem belanglosen Dorf unweit Krems,
etwa zwei Eisenbahnstunden von Wien, gehört im Jahre 1926 dieser
auswechselbare Einrichtungsgegenstand âșBeamteâč dem weiblichen
Geschlecht an und wird behördlicherseits, da diese Station einer niederen
ZÀhlklasse angehört, mit dem Titel Postassistentin angesprochen. Durch die
Glasscheibe erspÀht man von ihr nicht viel mehr als ein sympathisch
unauffĂ€lliges MĂ€dchenprofil, ein wenig schmal an den Lippen, ein wenig blaĂ
an den Wangen, etwas grau unter den Augenschatten; abends, wenn sie die
scharf markierende elektrische Lampe anschalten muĂ, merkt ein genauer
Blick an Stirn und SchlÀfen schon einige leichte Kerben und Falten. Aber
immerhin, mit den Malven am Fenster und dem breiten Holunderbusch, den
sie sich heute in die blecherne WaschschĂŒssel getan hat, stellt dieses MĂ€dchen
noch immer den weitaus frischesten Gegenstand inmitten der
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik