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Postamtsutensilien von Klein-Reifling dar, mindestens noch fünfundzwanzig
Jahre scheint sie diensthaltbar. Tausend und aber tausend Mal wird diese
blaßfingerige Frauenhand noch dieselbe klapperige Glasscheibe auf und
niederlassen. Hunderttausende und vielleicht Millionen Briefe wird sie noch
mit der gleichen rechtwinkeligen Bewegung auf das Stempelpult werfen
können und hunderttausend- oder millionenmal mit dem gleichen kurzen
Krach den geschwärzten Messingstempel auf die Marken stoßen.
Wahrscheinlich wird sogar immer besser, immer mechanischer das eingeübte
Gelenk funktionieren, immer unbewußter, immer abgelöster vom wachen
Leib. Die hunderttausend Briefe werden unablässig andere Briefe sein, aber
immer Briefe. Die Marken andere Marken, aber immer Marken. Die Tage
andere, aber jeder ein Tag von 8 Uhr bis 12 Uhr, von 2 Uhr bis 6 Uhr, und in
all den Jahren des Wachsens und Welkens der Dienst immer der gleiche, der
gleiche, der gleiche.
Vielleicht sinnt hinter ihrem Glasfenster die aschblonde Postassistentin in
dieser lautlosen Sommervormittagsstunde selbst solchen Zukünftigkeiten
nach, vielleicht träumt sie nur lose vor sich hin. Jedenfalls ihre Hände sind
vom Arbeitstisch unbeschäftigt nieder in den Schoß geglitten, dort ruhen sie
zusammengefaltet, schmal, müde, blaß. An einem so blau brennenden, so
feurig brütenden Julimittag hat die Post von Klein-Reifling wenig Arbeit zu
befürchten, der Morgendienst ist erledigt, die Briefe hat der bucklige,
tabakkauende Briefträger Hinterfellner längst ausgeteilt, vor abends kommen
keine Pakete und Warenproben von der Fabrik zu spedieren, und zum
Schreiben haben die Landleute jetzt weder Lust noch Zeit. Die Bauern
harken, mit meterbreiten Strohhüten bewehrt, weit draußen in den
Weingärten, die Kinder tummeln sich schulfrei mit nackten Beinen im Bach,
leer liegt das buckelige Steinpflaster vor der Tür in der brodelnden,
messingenen Glut des Mittags. Gut ist es jetzt, zu Hause zu sein und gut
träumen zu dürfen. Im künstlichen Schatten der herabgelassenen Jalousien
schlafen die Papiere und Formulare in ihren Laden und Regalen, faul und
matt blinzelt das Metall der Apparate durch die goldene Dämmerung. Stille
liegt wie ein dicker goldener Staub über den Gegenständen, nur zwischen den
verschlossenen Fenstern machen die dünnen Violinen der Mücken und das
braune Cello einer Hummel eine liliputanische Sommermusik. Das einzige,
was sich im gekühlten Raum unaufhörlich regt, ist die holzgefaßte Wanduhr
zwischen den Fenstern. Jede Sekunde schluckt sie mit einem ganz kleinen
Gluck einen Tropfen Zeit, aber dieses dünne, monotone Geräusch schläfert
eher ein statt zu erwecken. So sitzt die Postassistentin in einer Art wachen,
wohligen Lähmung inmitten ihrer kleinen schlafenden Welt. Eigentlich hatte
sie eine Handarbeit machen wollen, man sieht es an der vorbereiteten Nadel
und Schere, aber die Stickerei ist zerknüllt auf die Erde gefallen, ohne daß sie
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik