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Rausch der Verwandlung
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Page - 15 - in Rausch der Verwandlung

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aber nein: nur Verwirrung spürt sie und fragendes Erschrecktsein. Sonderbar, denkt sie, warum freue ich mich nicht? Hundertmal, wenn ich aus dem Postsack Ansichtskarten zum Einschachteln nahm und sie dabei ansah, graue norwegische Fjorde, die Boulevards von Paris, die Bucht von Sorrent, die steinernen Pyramiden von New York, habe ich sie nicht immer mit einem Seufzer aus der Hand gelegt? Wann ich? Wann ich auch einmal? Was denn habe ich geträumt, an diesen langen leeren Vormittagen, als einmal ausgekettet zu sein aus diesem sinnlosen Handlangern, aus diesem mörderischen Wettlauf mit der Zeit. Einmal ausruhen dürfen, Zeit groß und ganz haben, nicht immer so zerstückt und zerrissen, daß sie einem die Finger zerschneidet. Einmal nur nicht diesen täglichen Gang, vom Wecker, dem schlafmörderischen Verfolger, der einen jagt, aufzustehen, sich anziehen, einheizen, Milch holen, Brot holen, Feuer zünden, stempeln, schreiben, telefonieren, und dann wieder zu Hause gleich an das Bügelbrett, an den Kochherd, waschen, kochen, flicken, Pflegedienst tun und endlich dann todmüde hin in den Schlaf. Tausendmal habe ich das geträumt, Hunderttausende Male, hier an diesem selben Tisch, hier, in diesem verwitterten Käfig, und jetzt bricht’s endlich auf mich los, ich soll reisen, soll fort, frei sein, und doch – die Mutter hat recht – warum freue ich mich nicht? Warum bin ich nicht bereit? Mit starren Augen, mit matten Schultern sitzt sie und starrt auf die fremde kalte Wand, und wartet und wartet, ob, so stark angerufen, nicht doch eine verspätete Freude sich rühre. Unbewußt hält sie den Atem an und horcht wie eine Schwangere in den eigenen Leib, horcht und beugt sich tief in sich selbst hinab. Aber nichts rührt sich, stumm bleibt es und leer, wie ein Wald ohne Vogelruf, und immer angestrengter sucht sie sich, die Achtundzwanzigjährige, zu erinnern, wie ist das überhaupt, wenn man sich freut, und mit Erschrecken erkennt sie, sie weiß es nicht mehr: es ist wie eine fremde Sprache, in der Kindheit einmal gelernt, und man hat sie vergessen und weiß nur, man hat sie einmal gewußt. Sie denkt nach, wann habe ich mich zum letztenmal gefreut, heftig denkt sie nach, und zwei kleine Falten schneiden sich streng in die gesenkte Stirn. Allmählich erinnert sie sich: wie aus einem erblindeten Spiegel tritt ein Bild heraus, ein dünnbeiniges blondes Mädel, die Schultasche frech schlenkernd über kurzem Kattunrock. Ein Dutzend anderer wirbeln um sie herum: Schlagballspiel in einem Garten der Wiener Vorstadt. Jeden Augenblick zuckt ein heller Triller Übermut, eine Rakete Lachen mit dem Federball hoch, jetzt erinnert sie sich, wie leicht, wie locker dies Lachen damals in der Kehle gesessen, ganz nah war es immer, es kitzelte nur so unter der Haut, es quirlte und gärte im Blut; nur anzuschütteln brauchte man und schon kollerte es über die Lippen, so locker saß es im Hals, fast zu locker. Festhalten mußte man sich in der Schule mit den Händen an der Bank und die 15
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Rausch der Verwandlung
Title
Rausch der Verwandlung
Author
Stefan Zweig
Date
1982
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
204
Categories
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