Page - 19 - in Rausch der Verwandlung
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eiskalten, ungeheizten Waggon und abends erst zurück. Dann aufräumen,
flicken, scheuern, stopfen und nähen, bis man ohne zu denken, ohne etwas zu
wünschen, wie ein umgestürzter Sack in einen ungütigen Schlaf fällt, aus dem
man am liebsten nicht mehr erwachte.
Und 1918 – zwanzig Jahre. Noch immer Krieg, noch immer kein freier,
sorgloser Tag, noch immer nicht Zeit, einen Blick in den Spiegel, einen
Sprung auf die Gasse zu tun. Die Mutter beginnt zu klagen, die Beine
schwellen ihr an in dem feuchten, nicht unterkellerten Spitalsraum, aber sie
hat kaum mehr Kraft fĂĽr MitgefĂĽhl. Sie wohnt zu lang mit Gebrest im selben
Haus; irgend etwas in ihr ist stumpf geworden, seit sie täglich siebzig bis
achtzig grauenhafte VerstĂĽmmelungen auf der Schreibmaschine registrieren
muß. Manchmal stapft auf seiner Krücke das linke Bein ist zerschmettert –
ein kleiner Leutnant aus dem Banat zu ihr ins BĂĽro, goldblond das Haar wie
der Weizen in seiner Heimat und doch schon Schreckfalten in dem noch
ungewissen Kindergesicht. Aus Heimweh erzählt er in seinem
altschwäbischen Deutsch Geschichten von seinem Dorfe, seinem Hund,
seinen Pferden, armes blondes verlorenes Kind. Einmal kĂĽssen sie sich
abends auf einer Bank im Garten, zwei, drei matte KĂĽsse, mehr Mitleid als
Liebe, dann sagt er, er wolle sie heiraten, sobald der Krieg vorbei sei. Sie
lächelt erschöpft an seinen Worten vorbei; daß der Krieg je zu Ende gehen
könne, wagt sie gar nicht zu denken.
Und 1919 – einundzwanzig Jahre. Wirklich, der Krieg ist vorbei, das Elend
nicht. Nur geduckt hat sich’s unter dem Trommelfeuer der Verordnungen, nur
listig verkrochen unter den papierenen Kasematten der drucknassen
Banknoten und Kriegsanleihen. Jetzt kriecht es hervor, hohläugig,
breitmäulig, hungrig und frech, und frißt den letzten Abhub aus den Kloaken
des Krieges. Ein ganzer Winter von Nennern und Nullen schneit vom Himmel
herunter, Hunderttausende, Millionen, aber jede Flocke, jeder Tausender
zergeht leer in der heißen Hand. Während man schläft, schmilzt das Geld,
während man die zerrissenen, holzbestöckelten Schuhe wechselt, um ein
zweites Mal zum Verkaufsstand zu rennen, ist es zerblättert; immer ist man
unterwegs, doch immer schon zu spät. Das Leben wird Mathematik,
Addieren, Multiplizieren, ein toller, wirbeliger Kreis von Ziffern und Zahlen,
und dieser Quirl reiĂźt die letzten Habseligkeiten in sein schwarzes
unersättliches Nichts: die Goldspange der Mutter vom Halse, den Ehering
vom Finger, den damastenen Ăśberzug vom Tisch. Aber soviel man
hineinwirft, vergebens, man kann es nicht zustopfen, das schwarze höllische
Loch, es hilft nichts, daĂź man Wollsweater wirkt bis tief in die Nacht und alle
Zimmer vermietet und selbst zu zweit in der Küche schläft. Aber der Schlaf,
dies ist noch das einzige, das man sich gönnen kann, das einzige, was nichts
kostet; spätabends den abgejagten, mager gewordenen, blassen, den noch
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik