Page - 20 - in Rausch der Verwandlung
Image of the Page - 20 -
Text of the Page - 20 -
immer unberührten Leib auf die Matratze werfen, sechs Stunden, sieben
Stunden nichts zu wissen von dieser apokalyptischen Zeit.
Und dann 1920–1921. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig Jahre, Blüte der
Jugend, so heißt es doch. Aber ihr sagt es keiner, und sie selber weiß es nicht.
Von morgens bis abends nur ein Gedanke: wie auskommen mit dem ewig
dünner werdenden Geld? Um einen Strich ist es besser geworden. Noch
einmal hat der Onkel Hofrat geholfen, persönlich ist er zu seinem
Tarockfreund in die Direktion gegangen, eine Postaushilfsstelle
herauszubetteln, in Klein-Reifling zwar, erbärmliches Weinbauernnest, aber
immerhin eine Anstellungsanwartschaft, eine Planke Sicherheit. Für einen
reicht das knappe Gehalt, aber da der Schwager keinen Platz hat im Hause,
muß sie die Mutter zu sich nehmen und jedes Eins zu Zwei strecken: noch
immer beginnt jeder Tag mit Sparen und endet mit Rechnen. Jedes Zündholz
ist gezählt, jede Bohne im Kaffee, jeder Mehlkrümel im Teig. Aber immerhin,
man atmet, man lebt.
Und 1922, 1923, 1924 – vierundzwanzig, fünfundzwanzig,
sechsundzwanzig Jahre. Ist man noch jung? Wird man schon alt? Ein paar
Falten kritzeln sich leise in die Schläfen, müde sind ihr manchmal die Beine,
und im Frühjahr tut der Kopf ihr sonderbar weh. Aber doch, es geht vorwärts,
es geht besser. Das Geld liegt wieder hart und rund in der Hand, sie ist fix
angestellt, heißt Postassistentin, auch der Schwager schickt der Mutter zwei,
drei Banknoten am Monatsanfang. Jetzt wäre es Zeit, ganz leise zu versuchen,
wieder jung zu sein; die Mutter drängt selbst, sie solle doch ausgehen, sich
vergnügen. Schließlich setzt die Mutter durch, daß sie sich im Nachbarort in
eine Tanzstunde einschreiben läßt. Leicht wird dies rhythmische Tanzenlernen
nicht, die Müdigkeit sitzt schon zu tief im Blut, manchmal ist ihr, als seien ihr
die Gelenke schon irgendwie eingefroren, auch die Musik taut sie nicht auf.
Mühsam übt sie die vorgeschriebenen Schritte, aber es packt sie nicht recht,
es reißt sie nicht hin, zum erstenmal ahnt sie: zu spät, die Jugend verquält,
zerrissen vom Krieg. Eine Feder muß innen zerbrochen sein, und irgendwie
spüren das wohl auch die Männer, denn keiner wirbt recht um sie, obwohl ihr
zartes blondes Profil wie adelig wirkt unter den apfelrunden und apfelroten
groben Gesichtern der dörfischen Mädeln. Aber die warten dafür nicht so still
und geduldig, diese Siebzehnjährigen, Achtzehnjährigen des Nachkriegs, bis
einer sie will und wählt. Sie fordern Vergnügen als ihr Recht und fordern es
so ungestüm, als wollten sie nicht nur ihre eigene Jugend leben, sondern dazu
noch die der hunderttausend Toten und Verscharrten. Mit einer Art Schreck
beobachtet die Sechsundzwanzigjährige, wie selbstsicher und begehrlich, mit
wie wissenden und frechen Augen, mit wie provozierenden Hüften diese
Neuen, diese Jungen sich gebärden, wie unzweideutig sie unter den
verwegensten Griffen der Burschen lachen und wie sie ohne Scham eine vor
20
back to the
book Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik