Page - 23 - in Rausch der Verwandlung
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selbst zu denken.
Der Lehrer trägt den Koffer auf der rechten, etwas niedrigeren Schulter,
gleichgiltig gegen die lachenden Schuljungen. Die Last drĂĽckt nicht sehr, aber
doch muĂź er den ganzen Weg den Atem scharf anspannen, um mit Christine
Schritt zu halten, so ungeduldig und nervös hastet sie voraus; der Abschied
hat sie unerwartet grausam erregt. Dreimal ist ihr die Mutter, trotz des
ärztlichen ausdrücklichen Verbotes, die Treppen bis in den Hausflur
nachgestolpert, als ob sie aus einer unerklärlichen Angst,sich an ihr festhalten
wollte, dreimal hat sie, obwohl die Zeit drängt, die breite, strömend
schluchzende alte Frau wieder die Treppen hinauffĂĽhren mĂĽssen. Und dann
ist es geschehen, wie so oft in den letzten Wochen: mitten im Schluchzen und
erregt ausfahrenden Wort verlor die alte Frau plötzlich den Atem und mußte
keuchend hingebettet werden. In diesem Zustand hat Christine sie verlassen,
und nun erschüttert sie die Besorgnis wie eine persönliche Schuld: »Mein
Gott, wenn ihr etwas zustößt, so aufgeregt habe ich sie nie gesehen, und ich
bin nicht da«, klagt sie. »Oder wenn sie etwas braucht in der Nacht, und die
Schwester kommt doch nur über den Sonntag aus Wien. Das Mädel von der
Bäckerei, sie hat’s mir zwar heilig versprochen, daß sie abends bei ihr bleibt,
aber auf die ist kein Verlaß; wenn’s ans Tanzen geht, lauft die der eigenen
Mutter weg. Nein, ich hätte es nicht tun, mich nicht bereden lassen sollen.
Reisen, das taugt nur fĂĽr solche, wo kein Kranker im Haus ist, nicht fĂĽr
unsereins, und gar so weit weg, wo man nicht jeden Augenblick heim kann;
was hab’ ich denn von der ganzen Reiserei? Wie soll ich mich an was freuen
können, wenn mir’s keine Ruh läßt, wenn ich jede Minute denken muß, ob ihr
nichts abgeht, und niemand ist da in der Nacht, und die Klingel hinunter
hören sie nicht, oder wollen sie nicht hören. Sie mögen uns ja nicht im Haus,
die Wirtsleute; wenn’s nach denen ging, hätten sie uns längst ausgemietet.
Und die Assistentin, die aus Linz, die hab ich zwar auch gebeten, sie soll
mittags und soll abends auf einen Sprung herüberkommen, aber nur ›Ja‹ hat
sie gesagt, diese kalte, verhutzelte Person, so ein Ja, wo man nicht weiĂź, ob
sie’s wirklich tut oder nicht. Ob ich nicht doch lieber abtelegrafieren soll?
Was liegt der Tante denn wirklich dran, ob ich komm’ oder nicht, das redet
sich die Mutter doch nur ein, daß es denen um uns zu tun ist. Sonst hätten sie
längst zwischendurch aus Amerika schreiben können oder damals in
derNotzeit ein Paket mit Lebensmitteln herüberschicken, wie’s Tausende
getan haben. – Wieviel hab ich selber expediert, und nie ist eins an die Mutter
gekommen von der leibhaftigen Schwester. Nein, ich hätt’ nicht nachgeben
sollen, und wenn’s nach mir ging, möcht ich jetzt noch absagen. Ich weiß
nicht warum, aber ich hab’ so eine Angst. Ich sollt’ doch jetzt nicht fort, ich
sollt’ nicht fort.«
Der kleine, blonde, schĂĽchterne Mann an ihrer Seite nimmt mitten im
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik