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Rausch der Verwandlung
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Page - 27 - in Rausch der Verwandlung

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breiter als die gestreckte Hand, kaum weiter als die eigenen Füße Auslauf haben, und eine Nacht weit, einen Tag weit beginnt die vielfältigste Unendlichkeit! Mit einemmal, zum erstenmal, dringt eine Ahnung des Versäumten hinein in diesen bislang wunschlos gleichgiltigen Sinn, zum erstenmal erfährt an der Berührung des Übermächtigen ein Mensch die seelenumpflügende Kraft der Reise, die mit einem einzigen Riß uns die harte Rinde des Angewöhnten vom Leibe reißt und den nackten, fruchtbaren Kern zurückwirft in das strömende Element der Verwandlung. Erregt, die heißdurchblutete Wange leidenschaftlich neugierig an den Fensterrahmen gepreßt, steht vor diesem ersten aufgesprengten Augenblick ein ganz von sich fortgetragener Mensch die ganze Zeit vor der Landschaft. Nicht ein Gedanke tastet mehr nach rückwärts. Vergessen ist die Mutter, das Amt, das Dorf, vergessen die zärtlich gezeichnete Karte in dem Handtäschchen, die ihr jeden Gipfel und jeden der mit eilendem Schuß zu Tale stürzenden Bergbäche nennen könnte, vergessen das eigene gestrige Ich. Nur einfüllen jetzt bis zum letzten Tropfen, nur einfiltern das immer Andere dieser Großartigkeit, nur einsaugen jedes einzelne der panoramisch wandernden Bilder und zugleich mit aufgetanen Lippen immer wieder diese gefrorene Luft trinken, scharf und würzig wie Wacholder, diese Bergluft, die den Herzschlag härter und entschiedener färbt! Nicht einen Augenblick der vier Stunden Fahrt verläßt Christine den Fensterplatz, und dermaßen benommen starrt sie hinaus, daß sie die Zeit vergißt und mit grobem Herzstoß aufschreckt, wie die Maschine stoppt und fremdmundartlich, aber doch unverkennbar der Schaffner den Ort ihres Reiseziels ausruft. »Jesus Maria« – mit einem Ruck reißt sie die schwelgenden Sinne zurück. Sie ist schon angekommen und hat nichts bedacht, nicht, wie sie die Tante begrüßen werde, nicht, was sie zu sagen habe. Hastig tastet sie nach Koffer und Schirm – nur nichts vergessen! – und eilt den andern Aussteigenden nach. Eben stiebt die militärisch disziplinierte Doppelreihe der farbig bekappten Lohndiener jagdgierig auseinander, sich der Ankömmlinge zu bemächtigen, der Bahnhof schwirrt von Hotelrufen und lauten Begrüßungen. Nur auf sie kommt niemand zu. Immer unruhiger, den Herzschlag hoch in der Kehle, sieht und sucht sie ängstlich nach allen Seiten. Aber niemand. Nichts. Alle werden erwartet, alle wissen ihren Weg, nur sie nicht, sie allein. Schon drängen die Reisenden um die Hotelautomobile, die in blanker, farbiger Reihe warten wie eine schußbereite Batterie, schon entvölkert sich der Bahnsteig. Und noch immer niemand: man hat sie vergessen. Die Tante ist nicht gekommen; vielleicht abgereist oder krank, und man hat ihr abgesagt und das Telegramm ist zu spät gekommen. Mein Gott, wenn wenigstens das Geld zur Rückfahrt reicht! Zuvor aber wagt sie mit letzter Kraft sich zu einem Portier heran, dessen Kappe mit »Palace Hotel« golden belettert ist, und fragt mit 27
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Rausch der Verwandlung
Title
Rausch der Verwandlung
Author
Stefan Zweig
Date
1982
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
204
Categories
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