Page - 40 - in Rausch der Verwandlung
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wäre sie schon neugierig, in den Spiegel zu sehen, aber sie hält sich zurück,
die geschlossenen Augen verlängern so wohlig das Gefühl des betäubend
Traumhaften. Inzwischen hat heinzelmännisch leis sich ein zweites Fräulein
neben sie gesetzt und manikürt ihr, während die andere ihr die Wellen
kunstvoll legt, ihre Nägel. Auch dies läßt sie – fast ohne Überraschung schon
– nachgebend gehorsam geschehen und wehrt nicht, wie nach einem
einleitenden »Vous êtes un peu pâle, Mademoiselle« die geschäftige
Künstlerin ihr mit allerhand Stiften die Lippen aufrötet, die Bogen der
Augenbrauen steiler zeichnet und den Wangen die Farbe auffrischt. All dies
bemerkt sie und bemerkt sie zugleich nicht in dieser wohligen Ohnmacht des
Sichausschaltens, denn betäubt von der süßsatten, feuchtschwülen Luft, weiß
sie kaum, ob all dies ihr selber geschieht oder einem ganz andern, ganz neuen
Ich, nur wie Traumgeschehen, verworren und nicht ganz wahr erlebt sie das
Sonderbare und mit einer kleinen Angst, plötzlich aus diesem Traum zu
stürzen.
Endlich erscheint die Tante. »Ausgezeichnet«, äußert sie kennerisch zu der
Künstlerin. Auf ihren Wunsch werden noch einige dieser Schachteln, Stifte
und Flakons eingepackt und dann ein kleiner Spaziergang beschlossen.
Christine wagt aufstehend nicht in den Spiegel zu sehen: nur ganz sonderbar
leicht fühlt sie den Kopf im Nacken, und wenn sie jetzt im Ausschreiten
manchmal heimlich herabblickt auf den straffen Rock, die buntgemusterten
heitern Strümpfe, die blanken, elegant sitzenden Schuhe, so spürt sie, wie ihr
Schritt sich sicherer spannt. Zärtlich an die Tante geschmiegt, läßt sie sich
alles erklären, und alles ist wunderbar: die Landschaft mit ihrem
schmetternden Grün und dem panoramisch geordneten Kreis der Höhen, die
Hotels, diese Luxusburgen, hoch und herausfordernd in die Hänge gestellt,
die teuren Geschäfte mit ihren provokant noblen Auslagen, Pelze, Juwelen,
Uhren, Antiquitäten, all das sonderbar und fremd neben der ungeheuer
einsamen Majestät des eisigen Ferner. Wunderbar auch die Pferde in ihren
schönen Geschirren, die Hunde, die Menschen, selber scharfbunt gekleidet
wie die Alpenblumen. Die ganze Atmosphäre sonniger Sorglosigkeit, eine
Welt ohne Arbeit, eine Welt ohne Armut, die sie nie geahnt. Die Tante nennt
ihr die Namen der Berge, die Namen der Hotels, die Namen mancher
vorübergehender prominenter Gäste: ehrfürchtig hört sie zu, ehrfürchtig
schaut sie zu ihnen auf, und immer mehr wird ihr das eigene Daseindürfen zu
einem Wunder. Während sie zuhört, staunt sie, daß sie hier gehen darf, daß
dies erlaubt ist, und immer ungewisser wird sie, ob sie selbst es ist, die das
erlebt. Endlich sieht die Tante auf die Uhr. »Wir müssen nach Hause. Es ist
Zeit zum Umkleiden. Wir haben nur noch eine Stunde zum Dinner. Und das
einzige, was Anthony böse machen kann, ist Unpünktlichkeit.« Wie sie,
heimgekehrt, die Zimmertür öffnet, ist der Raum schon von Dämmerung
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik