Page - 52 - in Rausch der Verwandlung
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verschlossene Raum, zu gespannt der aufkochende, erregte Leib unter dem
übermächtig erregten Gefühl. Ein Ruck, die Balkontür steht offen und
wunderbar braust mit jähem Sturz die Schneekühle über die entblößten
Schultern. Jetzt kommt der Ateir, zurück, klar, regelmäßig gut, sie tritt hinaus
auf den Balkon und erschauert auf beglückte Art, mit ihrer eigenen heißen
Überfülltheit einer so ungeheuren Leere der Landschaft plötzlich
gegenüberzustehen und ein kleines irdisches Herz so allein, wild in dies
riesige Gewölbe der Nacht pochen zu lassen. Auch hier ist Stille, aber eine
mächtigere, elementarischere als die des von Menschenhänden gekellerten
Raums, Stille, die nicht bedrückt, sondern auflöst und entspannt. Stumm
liegen die vordem leuchtenden Berge jetzt in ihrem eigenen Schatten,
gekauerte schwarze Riesenkatzen mit phosphoreszierenden Schneeaugen, und
vollkommen atemlos die Luft im opalenen Lichte des fast schon gerundeten
Mondes. Wie eine zerbeulte gelbe Perle schwimmt er oben zwischen der
diamantenen Streu der Sterne, dünn und ungewiß entschleiert nur sein fahles,
kühles Licht die nebelumwogten Konturen des Tales. Nie hat sie etwas derart
Mächtiges, sanft die Seele Niederzwingendes gefühlt als diese nicht
menschhaft, sondern göttlich schweigende Landschaft, aber alle Erregtheit
strömt sacht von ihr ab in diese grundlose Ruhe, und sie horcht, horcht und
horcht sich leidenschaftlich hinein in diese Stille, um völlig gefühlshaft in ihr
aufzugehen. Da plötzlich – wie aus einem Weltall heraus, rollt ein bronzener
Block mächtig hinein in die erfrorene Luft: die Kirchenglocke unten im Tal
hat angeschlagen, und aufgeschreckt werfen rechts und links die Felswände
den erzenen Ball zurück. Wie selbst vom Klöppel auf das Herz getroffen,
schreckt Christine auf und horcht. Abermals schollen ein solcher bronzener
Ton in das Nebelmeer hinein, abermals, abermals. Atemlos zählt sie die
fallenden Schläge mit: neun, zehn, elf, zwölf: Mitternacht! Ist es möglich?
Erst Mitternacht? Nur zwölf Stunden also, daß sie hier angekommen,
schüchtern, scheu, verstört, mit einer ganz eingetrockneten, kleinen,
armseligen Seele, wirklich nur ein einziger Tag, nein, ein halber Tag? Und
zum erstenmal beginnt in diesem Augenblick ein selig aufgewühlter, bis in
seine Tiefen erschütterter Mensch zu ahnen, aus welch geheimnisvoll zartem
und biegsamen Stoff unsere Seele gewoben ist, daß schon ein einziges
Erlebnis vermag, sie ins Unendliche zu erweitern und ein ganzes Weltall in
seinem winzigen Räume zu umfassen.
Auch der Schlaf, selbst er ist ein anderer in dieser neuen Welt, schwärzer,
dichter, narkotischer, ein völlig Insichversunkensein. Ganz von unten her, aus
einer sonst nie gekannten Schlaftiefe muß Christine im Erwachen die völlig
ertrunkenen Sinne heraufholen: mühsam, langsam, Ruck um Ruck wie aus
einem unergründlichen Ziehbrunnen nur hebt sich hier das versunkene
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik