Page - 55 - in Rausch der Verwandlung
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Wachsein, Schlaf hier in dieser göttlichen Welt Verschwendung. Ein letzter
Ruck und sie saust aus dem Bett, kalter Guß über Stirn und Nacken, und sie
ist völlig frisch, jetzt noch rasch hinein in die neuen Kleider – ah, wie weich
doch diese Wäsche knistert und bebt. Seit gestern hat ihr Körper dieses neue
Gefühl schon wieder vergessen, nun genießt die Haut abermals beglückt dies
zärtlich Anschmiegende und Liebkosende des kostbaren Stoffs. Aber nicht
viel sich aufhalten an diesen kleinen Entzückungen, nicht zögern, fort, fort,
fort, rasch hinaus aus dem Zimmer, irgendwohin, das Glücklichsein, das
Freisein stärker fühlen, die Glieder sich auslaufen, die Augen sich anfüllen,
Wachsein, noch stärker wach, mit allen aufgesprengten Sinnen und Poren
lebendig wach! Hastig reißt sie den Sweater um, stößt die Mütze ins Haar und
flattert die Treppe hinab.
Die Gänge des Hotels dämmern noch grau und leer im kalten
Frühmorgenlicht, nur unten in der Halle bürsten hemdärmelige Diener mit
elektrischen Reinigungsmaschinen die Laufteppiche, erstaunt, mit mißmutig
verschwollenen Augen bestarrt der Nachtportier diesen zu morgendlichen
Gast, dann erst lüftet er schläfrig die Kappe. Armer Kerl, auch hier also
schwerer Dienst, heimliche Arbeit, schlecht bezahlte Plackerei,
Aufstehenmüssen und Pünktlichsein! Aber nicht daran denken, was geht es
mich an, niemand will ich jetzt spüren als mich, mich, mich, vorwärts, vorbei,
hinaus in die kalt anspringende Luft, die mit einem Ruck wie ein eisiger
Lappen Lider, Lippen und Wangen munterwäscht. Donnerwetter, wie kalt
diese Bergluft einen anfaßt, eiskalt bis in die Knochen – da hilft nur laufen,
sich das Blut warm laufen, geradeaus den Weg entlang, er wird schon
irgendwohin führen, irgendwohin, hier oben ist ja alles gleich neu und
zauberhaft.
Heftig ausschreitend merkt Christine erst die unerwartete Leere des
Morgens. Das ganze Menschengewirbel, das gestern mittags die Wege
überschwemmte, scheint jetzt, sechs Uhr, noch in den großen Steinkisten der
Hotels verpackt, und selbst die Landschaft liegt verschlossenen Blicks in
einer Art grauem magnetischem Schlaf. Kein Ton in der Luft, erloschen der
gestern so goldene Mond, verschwunden die Sterne, vergangen die Farben,
völlig im Nebelgemisch die Felsen, fahl und farblos wie kaltes Metall. Nur an
den höchsten Spitzen der Berge schieben unruhig die dicken Nebelwolken,
irgendeine unsichtbare Kraft scheint sie zu dehnen, an ihnen zu zerren, ab und
zu löst sich eine von der dichten Masse und schwimmt wie ein weißer breiter
Wattebausch ins Obere und Hellere empor. Und je mehr sie steigt, um so
satter färbt unergründliches Licht ihre fließenden Konturen und zeichnet ihr
goldenen Rand: die Sonne muß nahe sein, irgendwo schon rege hinter den
Gipfeln, noch erblickt man sie nicht, aber schon fühlt in atmender Unruhe die
Atmosphäre ihre wärmende Kraft. Ihr entgegen also, hinauf, empor! Höher
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik