Page - 57 - in Rausch der Verwandlung
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besonnen mit aufrechtem Touristenschritt, aber die Schwerkraft des Abstiegs
reizt ihr die Glieder zu Lauf und Sprung, und sie gibt sich ihm hin, diesem
süßen gefährlichen Zug der Tiefe. Immer schneller, immer wilder, immer
kühner schwingt sie sich ab von Stein zu Stein; wie vom Wind getragen,
heiter, selbstbewußt, unerhört froh, die Lust zu Gesang in der aufgeweckten
Kehle, wirbelt sie mit schwingendem Rock, mit flatternden Haaren die
Serpentinen hinunter zu Tal.
Vor dem Hotel, es ist neun Uhr, die anberaumte Stunde, steht der junge
deutsche Ingenieur, sportlich angetan und wartet auf den Trainer für das
morgendliche Tennis. Sich hinzusetzen auf die feuchte Bank ist noch zu kalt,
immer wieder fährt Wind mit seinen spitzen Eisfingern unter das leinendünne,
halboffene weiße Hemd; so geht er heftig, mit klammen Schritten auf und ab,
das Racket wirbelnd, um Wärme in die Hände zu kriegen. Zum Teufel, der
Trainer kommt nicht, hat er verschlafen? Ungeduldig blickt der Ingenieur hin
und her. Da, zufällig aufschauend zum Höhenweg, bemerkt er oben etwas
Sonderbares, etwas Helles, wirblig und bunt Bewegtes, das, durch die Ferne
klein wie ein Insekt, in merkwürdigen Sprüngen den Weg herunterschollert.
Hallo, was ist das? Schade, man hat nicht den Fernstecher zur Hand. Aber es
kommt ja rasch näher, das Helle, Bunte, das vom Schwung Beflügelte: gleich
wird man deutlicher sehen. Der Ingenieur schattet die Finger über die Augen
und erkennt jetzt, unsinnig rasch stürmt da jemand den Bergweg herab, eine
Frau muß es sein oder ein junges Mädchen, wehenden Haares und mit
schwingenden Armen, wahrhaftig wie vom Wind getragen. Donnerwetter, wie
unvorsichtig, im vollen Lauf so die Kurven herunterzusausen, tolles Ding,
aber herrlich ist er anzuschauen, dieser lodernde Niederlauf. Unwillkürlich
tritt der Sportsmann einen Schritt vor, um die hitzig Niederlaufende besser zu
betrachten. Wie eine Göttin der Frühe sieht das Mädchen aus, rückflatternd
die Mähne, mänadisch freischwebend die Arme, ganz Kühnheit und
Schwung. Ihr Gesicht kann er noch nicht wahrnehmen, die Züge zerfließen in
der Geschwindigkeit des Laufes und im Gegenschein der steigenden Sonne.
Aber schließlich, hier am Tennisplatz muß sie ja vorbei, wenn sie zum Hotel
will; hier endet der Weg. Immer näher kommt sie heran, schon kollern
abgesprungene kleine Steine voraus, schon hört er ihren Schritt an der obern
Kurve, und plötzlich saust sie her, zuckt, staunt und stoppt. Mit einem
scharfen Ruck muß sie innehalten, um den Mann, der ihr absichtlich in den
Weg getreten ist, nicht zu überrennen. Der Rückstoß wirft ihr Haar zurück
und schlägt die Röcke klamm an die Beine. Erschrocken steht sie vor ihm,
keuchend, den Atem angeschraubt, eine knappe Armlänge bloß. Dann löst
plötzlich ein Lachen ihre jähe Überraschung. Sie hat den Tanzpartner von
gestern erkannt: »Ach, Sie sind es«, stößt sie entlastet heraus. »Verzeihen Sie,
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik