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Rausch der Verwandlung
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Page - 72 - in Rausch der Verwandlung

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»Was ist mit mir?« fragt sie sich nach, eine Neugier hat in ihr begonnen zu wissen, wer sie selber ist, und nach der Entdeckung dieser neuen Welt sich selbst zu entdecken. Und abermals drei Tage, vier Tage, eine ganze wilde Woche ist im Flug vorbei. Im Speisesaal sitzt smokinggerüstet Anthony, mit seiner Frau beim Dinner und knurrt. »Jetzt habe ich aber diese Unpünktlichkeit satt. Das erstemal, well, das kann jedem passieren. Aber den Tag herumzustreunen und einen noch sitzen und warten zu lassen, das ist eine Ungezogenheit. Zum Teufel, was denkt sie sich eigentlich!« Claire beschwichtigt. »Mein Gott, was willst du. So sind sie heute alle, nichts zu machen, Nachkriegserziehung, die kennen nur ihr eigenes Jungsein und ihr Vergnügen.« Aber Anthony wirft ingrimmig die Gabel auf den Tisch: »Zum Teufel mit diesem ewigen Vergnügen. Ich war auch einmal jung und bin über den Strang gegangen, aber Ungezogenheiten habe ich mir nicht erlaubt und hätt’ mir’s auch nicht erlauben dürfen. Die zwei Stunden im Tage, wo dein Fräulein Nichte noch geruht, uns die Ehre ihrer Gegenwart zu erweisen, hat sie pünktlich zu sein. Und dann noch eins bitt’ ich mir aus – sage ihr das endlich einmal, und zwar gründlich! –, daß sie nicht jeden Abend diesen Haufen Burschen und Mädel an unsern Tisch schleppt; was geht mich dieser stiernackige Deutsche an mit seiner kahlgeschorenen Sträflingsfrisur und seinem Kaiser-Wilhelm-Geschnarr und der jüdische Referendar mit seinen ironischen Gescheitheiten und diese Flapper aus Mannheim, die ausschaut wie aus einer Bar geborgt. Nicht einmal meine Zeitung kann ich lesen, immer wirbelt und paukt und lärmt das hin und her: wie komme ich dazu, mich mit solchen windigen Rotznasen zusammenspannen zu lassen. Heute abends bitte ich mir jedenfalls meinen Frieden aus, und wenn sich auch einer von dieser lauten Bande an meinen Tisch setzt, schmeiß ich alle Gläser um.« Claire widerspricht nicht direkt, sie weiß, es tut nicht gut, sobald einmal blaue Adern oben an seiner Stirn aufzittern; was sie ärgert, ist eigentlich, daß sie Anthony recht geben muß. Anfangs war sie selbst es gewesen, die Christine in diesen Wirbel hineinschob, es hatte ihr Spaß gemacht zu sehen, wie flink und geschickt ihr Mannequin sich in die Toiletten hineinpaßte; aus ihrer eigenen Jugend dämmert noch ein verworrenes Erinnern an die Entzückung, wie sie das erstemal sich nobel auftun und mit ihrem Gönner bei Sacher speisen durfte. Aber tatsächlich, in diesen letzten zwei Tagen hat Christine jedes Maß verloren: wie jeder Trunkene spürt sie nur sich und ihre wirbelnde Seligkeit, sie merkt zum Beispiel nicht, daß abends der alte Mann schon schläfrig den Kopf sinken läßt, merkt es selbst dann nicht, wenn die Tante eindringlich mahnt: »Komm, es wird schon spät« – eine Sekunde schreckt sie nur aus 72
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Rausch der Verwandlung
Title
Rausch der Verwandlung
Author
Stefan Zweig
Date
1982
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
204
Categories
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