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Rausch der Verwandlung
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Page - 74 - in Rausch der Verwandlung

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Keiner spricht ein Wort. »Du bist doch nicht ungehalten, Onkel, ernstlich ungehalten?« fragt Christine beunruhigt. »Nein«, murrt er, »aber mach, daß du fertig wirst.« So ärgerlich fährt’s ihm heraus, daß es Claire peinlich berührt, denn Christine sitzt sofort kleinlaut da, wie ein geschlagenes Kind. Sie wagt nicht aufzublicken, den halbzerschnittenen Apfel hat sie verschüchtert auf den Teller gelegt, und um den Mund zuckt es hin und her. Rasch greift die Tante ein; um abzulenken, wendet sie sich an Christine und fragt: »Was hörst du denn von Mary? Hast du gute Nachrichten von zu Hause? Ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen.« Aber Christine wird noch blasser, sie spürt ein Zittern bis zu den Zähnen. Um Himmels willen, daran hat sie noch gar nicht gedacht! Seit einer Woche sitzt sie jetzt hier herum, und es ist ihr gar nicht aufgefallen, daß sie nicht eine einzige Zeile Post bekommen hat, das heißt, zwischendurch in flüchtigen Augenblicken hatte sie sich gewundert und immer wieder vorgenommen, zu schreiben, aber dann kam immer wieder ein Wirbel dazwischen. Jetzt fällt ihr das Versäumte wie ein Hieb aufs Herz. »Ich kann mir’s nicht erklären, keine einzige Zeile habe ich bisher von zu Hause. Ob am Ende etwas verlorengegangen ist?« Jetzt wird auch das Gesicht der Tante spitz und streng. »Merkwürdig«, sagt sie, »sehr merkwürdig! Aber vielleicht kommt’s davon, daß man dich hier nur als Miss van Boolen kennt und die Briefe für Hoflehner liegen unbehoben beim Portier. Hast du bei ihm nachgefragt?« »Nein«, atmet Christine ganz still und niedergeschmettert. Sie erinnert sich deutlich, dreimal oder viermal, eigentlich jeden Tag hat sie fragen wollen, aber immer war etwas los, immer wieder hat sie darauf vergessen. »Entschuldige, Tante, einen Augenblick!« springt sie empor. »Ich will gleich nachsehen.« Anthony läßt die Zeitung sinken, er hat alles gehört. Zornig blickt er ihr nach. »Da hast du’s! Die Mutter schwerkrank, sie hat’s selber erzählt, und sie fragt nicht einmal nach, nur hin und her flappern den ganzen Tag! Jetzt siehst du, ob ich recht hatte.« »Wirklich unglaublich«, seufzt die Tante, »in acht Tagen nicht ein einziges Mal nachzufragen, wo sie doch weiß, wie es mit Mary steht. Und anfangs war sie so rührend besorgt um die Mutter, mit Tränen in den Augen hat sie mir erzählt, wie schrecklich es ihr war, sie allein zurückzulassen. Unglaublich, wie sie sich verändert hat.« Inzwischen ist Christine zurückgekommen, mit ganz andern, ganz kleinen Schritten, verwirrt und beschämt. Ganz dünn setzt sie sich in den breiten Fauteuil, am liebsten möchte sie sich ducken wie vor einem verdienten Schlag. Tatsächlich, drei Briefe und zwei Karten sind beim Portier unbehoben gelegen, jeden Tag hat mit rührender Sorgfalt Fuchsthaler genaue Nachrichten gesandt, und sie – wie ein Stein fällt es auf ihr Gewissen – sie hat nur einmal eine einzige Karte mit Bleistift von Celerina rasch hingeschmiert. Nicht ein einziges Mal hat sie den schön schraffierten, den zärtlich gezeichneten Plan 74
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Rausch der Verwandlung
Title
Rausch der Verwandlung
Author
Stefan Zweig
Date
1982
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
204
Categories
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