Page - 75 - in Rausch der Verwandlung
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des braven verläßlichen Freundes mehr angesehen, sie hat seine kleine Gabe
überhaupt nicht aus dem Koffer genommen; weil sie unbewußt ihr früheres,
ihr anderes, ihr Hoflehner-Ich vergessen wollte, hat sie das Ganze hinter ihr,
die Mutter, die Schwester, den Freund vergessen. »Nun«, fragt die Tante, da
sie sieht, daß Christine die Briefe ungeöffnet in der Hand beben, »willst du sie
nicht lesen?« »Ja, ja, gleich«, murmelt Christine. Gehorsam reißt sie die
Couverts auf und fliegt, ohne auf das Datum zu achten, die klaren und
sauberen Zeilen Fuchsthalers durch: »Heute geht es gottlob etwas besser«,
steht in dem einen, und in dem andern: »Da ich Ihnen ehrenwörtlich
versprochen habe, verehrtes Fräulein, ehrliche Nachrichten über das Befinden
Ihrer sehr verehrten Frau Mutter zu geben, muß ich leider mitteilen, daß wir
gestern nicht ohne Sorge waren. Die Aufregung über Ihre Abreise hat nicht
ungefährliche Erregungszustände verursacht … « Sie blättert hastig weiter.
»Die Injektion hat eine gewisse Beruhigung erzielt, und wir hoffen wieder das
Beste, wenn auch die Gefahr eines neuerlichen Anfalls nicht gänzlich
ausgeschaltet ist.« »Nun«, fragt die Tante, die Christines Erregung bemerkt,
»wie geht es der Mutter?« »Ganz gut, ganz gut«, sagt sie aus lauter
Verlegenheit, »das heißt, Mutter hat wieder Beschwerden gehabt, aber es ist
schon vorbei, und sie grüßt vielmals, und auch die Schwester läßt die Hand
küssen und vielmals danken.« Aber sie glaubt selbst nicht, was sie sagt.
Warum schreibt die Mutter selbst nicht, nicht eine Zeile, denkt sie nervös, ob
ich nicht lieber telegrafieren sollte oder versuchen, telefonisch das Postamt
anzurufen, meine Stellvertreterin weiß doch gewiß Bescheid. Jedenfalls muß
ich gleich schreiben, wirklich eine Schande, daß ich es noch nicht getan habe.
Sie wagt nicht, die Augen zu heben, aus Furcht, dem beobachtenden Blick der
Tante zu begegnen. »Ja, es wird gut sein, wenn du ihnen einmal ausführlich
schreibst«, sagt die Tante, als hätte sie ihren Gedanken erraten. »Und von uns
beiden sag die herzlichsten Grüße. Übrigens, auch wir gehen heute nicht in
die Halle, sondern gleich hinauf in unser Zimmer, Anthony strengt dieses
tägliche Aufbleiben doch zu sehr an. Gestern konnte er überhaupt nicht mehr
einschlafen, und schließlich ist er auch zu seiner Erholung da.« Christine
spürt den versteckten Vorwurf. Sie erschrickt, das Herz wird ihr plötzlich
klein und kalt. Beschämt nähert sie sich dem alten Mann. »Bitte, Onkel,
nimm’s mir nicht übel, ich konnte nicht ahnen, daß es dich anstrengt.« Der
alte Mann, halb noch gekränkt, halb schon gerührt von ihrem demütigen Ton,
knurrt abwehrend. »Ach was, wir alten Leute schlafen immer schlecht. Hie
und da macht’s mit ja Spaß so im Wirbel zu sein, aber nicht jeden Tag. Und
schließlich, jetzt brauchst du uns nicht mehr, du hast ja Gesellschaft genug.«
»Nein, keinesfalls, ich gehe mit euch.« Vorsichtig hilft sie dem alten Mann
in den Lift hinein und führt ihn so sorglich und zärtlich, daß der Unmut der
Tante allmählich schmilzt. »Du mußt verstehen, Christl, man will dir ja kein
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik