Page - 76 - in Rausch der Verwandlung
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Vergnügen nehmen«, sagt sie, während sie die zwei Stockwerke hinaufsausen,
»aber dir wird’s auch nur gut tun, dich einmal gründlich auszuschlafen, sonst
ĂĽbermĂĽdest du dich und deine ganze Erholung geht darauf. Es kann nicht
schaden, wenn du einmal eine Pause machst in dem Wirbel. Bleib heute nur
ruhig in deinem Zimmer und schreib Briefe, offen gesagt, es paĂźt sich nicht,
wenn du immer allein mit den Leuten herumziehst, und auĂźerdem, ich bin
nicht übermäßig von allen entzückt. Ich hätte dich lieber mit General Elkins
gesehen als mit diesem jungen ›Ich-weiß-nicht woher‹. Glaub mir, du tust
besser, du bleibst heute oben.«
»Ja, ich versprech’s dir, Tante«, sagt Christine ganz demütig. »Du hast
recht, ich weiß selbst. Es war nur so … ich weiß nicht, wie … diese Tage
haben mich ganz wirr und wirbelig gemacht, vielleicht ist es auch die Luft
und das alles. Aber ich bin selbst froh, daĂź ich einmal ruhig nachdenken und
Briefe schreiben kann. Ich gehe gleich hinĂĽber, du kannst dich verlassen.
Gute Nacht!«
Sie hat recht, denkt Christine, ihr Zimmer aufsperrend, und sie meint es mir
doch nur gut. Wirklich, ich hätte mich nicht so treiben lassen sollen, wozu
diese Hetzerei, ich hab doch noch Zeit, acht Tage, neun Tage, und schlieĂźlich,
wenn ich mich krank melde und um Verlängerung telegrafiere, was kann mir
geschehen, ich hab’ doch noch nie Urlaub gehabt und nie einen Tag in den
Dienstjahren gefehlt. Sie glauben es mir schon in der Direktion, und die
Substitutin ist doch nur froh. Wunderbar, wie ruhig es hier ist, in dem schönen
Zimmer, keinen Ton hört man herauf, endlich kann man einmal nachdenken,
alles besinnen. Ja, und die BĂĽcher, die Lord Elkins mir geliehen hat, die muĂź
ich doch endlich lesen – nein, erst die Briefe, ich bin doch heraufgekommen,
meine Briefe zu schreiben. Eine Schande, acht Tage keine Zeile an die Mutter,
an die Schwester, an den braven Fuchsthaler, der Assistentin soll ich doch
auch eine Ansichtskarte schicken, das gehört sich doch, und den Kindern der
Schwester habe ich auch eine versprochen. Und noch was habe ich
versprochen, was nur – mein Gott, ich bin ganz konfus, was hab ich denn
wem versprochen – ach so, dem Ingenieur, daß wir morgen früh zusammen
den Ausflug machen. Nein, keinesfalls allein mit ihm, nur nicht mit ihm, und
dann – morgen muß ich doch mit dem Onkel und der Tante sein, nein, ich
gehe nicht mehr mit ihm allein … Aber eigentlich sollte ich dann absagen,
sollte rasch hinuntergehen, daß er dann morgen nicht umsonst wartet … nein,
ich hab doch der Tante versprochen, ich bleib’ hier … Übrigens, ich kann’s
doch durchs Telefon dem Portier hinuntersagen, er soll’s ihm ausrichten …
durchs Telefon, ja, so ist’s am besten. Nein, doch nicht … Wie sieht das aus,
sie glauben am Ende, ich bin krank oder hab’ Hausarrest, und die ganze
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik