Page - 79 - in Rausch der Verwandlung
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tanzen, ich darf nicht. Ich habe noch Briefe zu schreiben, sie müssen noch mit
dem Frühzug fort. Und dann, ich hab’ meiner Tante versprochen, heute
abends oben zu bleiben. Nein, ausgeschlossen, ich darf nicht. Sie wäre schon
böse, wenn sie wüßte, daß ich noch einmal heruntergekommen bin.«
Konfidenzen sind immer gefährlich, denn ein Geheimnis, einem Fremden
anvertraut, löst die Fremdheit zu ihm. Man hat etwas von sich weggegeben,
und ihm damit einen Vorteil. Tatsächlich, sofort wird der hart begehrende
Blick vertraulich: »Aha, durchgebrannt! Ohne Urlaubsschein. Na, keine
Angst, ich werde Sie nicht verzünden, ich nicht … Aber jetzt, wo ich mir die
Beine eine Stunde lang in den Leib gestanden habe, laß ich Sie nicht so leicht
wieder frei, nein, nicht zu denken daran. Wer A sagt, muß auch B sagen, wenn
Sie schon einmal heruntergekommen sind ohne Permiß, so bleiben Sie jetzt
ohne Permiß mit uns.«
»Was fällt Ihnen ein! Unmöglich. Am Ende kommt die Tante noch
herunter. Nein, ausgeschlossen!«
»Nun, das wollen wir gleich dokumentarisch feststellen, ob Tantchen schon
schläft. Kennen Sie die Fenster?« »Aber warum?« »Sehr einfach, wenn die
Fenster dunkel sind, dann schläft Tante schon. Und wer einmal ausgezogen
im Bett liegt, zieht sich nicht eigens an, um nachzusehen, ob das Kindchen
brav ist. Mein Gott, wie oft sind wir im Technikum ausgerückt,
Wohnungsschlüssel und Haustorschlüssel gut geölt und in bloßen Strümpfen
bis zum Hausflur hinunter. So ein Abend war immer siebenmal so lustig wie
die feierlich beurlaubten. Also los, zur Konstatierung!« Unwillkürlich muß
Christine lächeln; wie leicht, wie locker sich hier alles löst, wie hier alle
Schwierigkeiten sich entwirren! Ein Kleinmädelübermut kitzelt sie, ihre
allzustrengen Wächter zum Narren zu halten. Aber nur nicht zu rasch
nachgeben, denkt sie sich. »Ausgeschlossen, ich kann doch nicht so hinaus in
die Kälte! Ich habe gar keinen Mantel mit.«
»Dafür haben wir Ersatz. Einen Augenblick«, und schon springt er hin zur
Garderobe und holt seinen Ulster, der dort weich und wollig hängt. »Wird
schon passen, nur hinein!«
»Aber ich sollte doch … « denkt sie und denkt dann doch wieder nicht
mehr weiter, was sie eigentlich soll, denn schon hat er ihr einen Arm
hineingeschoben in den weichen Rock, jetzt wäre Widerstand kindisch,
lachend und spitzbübisch behaglich wickelt sie sich in das fremde, männische
Kleid hinein. »Nicht durch den großen Ausgang«, lächelt er in ihren
verhüllten Rücken, »hier durch die Seitentür, und gleich machen wir der Tante
die Fensterpromenade.« »Aber wirklich nur einen Augenblick«, sagt sie, und
kaum im Dunkel, fühlt sie schon seinen Arm wie selbstverständlich
untergeschoben. »Nun, wo sind die Fenster?« »Links im zweiten Stock, dort
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik