Page - 100 - in Rausch der Verwandlung
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was soll ich denn hier? Aber nichts, Schweigen, Schweigen, nur die kleinen
unnötigen Geschäftigkeiten der Tante und der unruhig auf und abgehende
Schritt des Onkels und in sich selber das laut hämmernde, hart pochende
Herz.
Endlich – Befreiung! – klopft es an die Tür. Der Zimmerkellner tritt ein,
hinter ihm ein zweiter mit weiĂźem Tischzeug. Zu Christines Erstaunen
beginnen sie, das Rauchzeug vom Tisch zu räumen und sauber und
umständlich aufzudecken.
»Weißt du«, erklärt jetzt endlich die Tante, »Anthony dachte, es sei doch
besser, heute abends lieber hier oben auf dem Zimmer zu essen. Ich hasse die
umständliche Verabschiederei von den Leuten und das Gefrage, wohin und
wie lange, auĂźerdem hab ich schon fast alle meine Sachen eingepackt, auch
Anthonys Smoking liegt schon im Koffer. Und dann, nicht wahr – wir sitzen
eigentlich hier stiller und gemütlicher beisammen.«
Die Kellner schieben den Rolltisch herein und servieren von den nickelnen
Wärmeplatten. Wenn sie draußen sind, muß man mir doch endlich alles
erklären, denkt Christine und beobachtet ängstlich die Gesichter der beiden:
der Onkel beugt sich tief in den Teller hinein und löffelt mit Erbitterung, die
Tante scheint blaß und geniert. Schließlich beginnt sie: »Du wirst dich
wundern, Christine, daĂź wir uns so schnell entschlossen haben! Aber bei uns
da drüben geht alles quick – das ist eins der paar guten Dinge, die man drüben
in Amerika lernt. Nur nicht lang hinausziehen, wozu man keine rechte Lust
hat. Geht ein Geschäft nicht gut, so gibt man’s auf und fängt ein neues an,
fĂĽhlt man sich wo nicht wohl, so packt man die Koffer und fort,
irgendwoanders hin. Eigentlich, ich wollt’s dir nur nie sagen, weil du dich so
famos hier erholt hast, haben wir beide uns schon lange nicht wohlgefĂĽhlt
hier, ich habe die ganze Zeit schlecht geschlafen, und Anthony verträgt sie
eben auch nicht, diese hohe dünne Luft. Zufällig kam da gerade heute ein
Telegramm von unsern Freunden aus Interlaken, und schon waren wir
entschlossen und fahren wahrscheinlich nur auf ein paar Tage und dann noch
nach Aix-les-Bains. Ja, bei uns – ich versteh’, daß es dich überrascht – geht
alles quick.«
Christine beugt den Kopf zum Teller hinab: nur die Tante jetzt nicht
ansehen! Irgend etwas im Tonfall, in der Sprudeligkeit des Schwätzens quält
sie, jedes Wort voll falscher Forschheit und kĂĽnstlich frisch. Es muĂź doch
etwas dahinterstecken, fĂĽhlt Christine. Es muĂź noch etwas kommen, und es
kommt: »Selbstverständlich wäre es das beste gewesen, wenn du hättest
mitkommen können«, redet die Tante weiter, während sie von dem Poulard
den Flügel ablöst. »Aber Interlaken würde dir, glaube ich, nicht gefallen, es
ist kein Ort fĂĽr junge Leute, und man muĂź sich fragen, ob dies Hin und Her
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik