Page - 103 - in Rausch der Verwandlung
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taumelt und nur durch die Bewegung sich aufrecht hält, ehe es mit gelösten
Gelenken niederfällt, so schleppt sie sich mit den Händen die Wand entlang
bis zu ihrem Zimmer; dort fällt sie in den Sessel, starr, kalt, regungslos. Sie
versteht nicht, was geschehen ist. Nur den Schmerz eines hinterrücks
geführten Schlages spürt sie hinter der gelähmten Stirn, nicht wer ihn geführt.
Irgend etwas war mit ihr, gegen sie geschehen. Man jagt sie fort, und sie weiß
nicht warum.
Mit aller Anstrengung versucht sie zu denken. Aber das Gehirn zwischen
ihren Schläfen bleibt betäubt. Dort steht etwas blaß und starr und antwortet
nicht. Und die gleiche Starre steht um sie, gläserner Sarg und grausamer noch
als ein schwarzer feuchter Sarg, weil höhnisch hell erleuchtet, mit Luxus
blendend, mit Bequemlichkeit höhnend und still, grauenhaft still, während in
ihr die Frage um Antwort schreit: »Was habe ich getan? Warum jagen sie
mich hinaus?« Unerträglich ist dieses Gegeneinander, dieser dumpfe Druck
von innen, als liege das ganze riesige Haus mit seinen vierhundert Menschen,
seinen Steinen und Traversen und dem riesigen Dach ihr auf der Brust, und
dabei dieses kalt-giftige, weiße Licht, das Bett mit geblümten Daunen zu
Schlaf einladend, die Möbel zu heiterer Rast, die Spiegel zu beglückendem
Blick; ihr ist, als müsse sie erfrieren, wenn sie hier sitzen bleiben müsse auf
dem schmerzenden Sessel, oder plötzlich die Scheiben zerschlagen in
sinnloser Wut, oder so schreien, so heulen, so weinen, daß die Schlafenden
aufwachen. Nur weg! Nur heraus! Nur… sie weiß nicht was. Aber nur weg,
weg, um nicht zu ersticken in dieser gräßlichen, luftleeren Lautlosigkeit.
Und plötzlich, ohne zu wissen, was sie will, springt sie auf und läuft
hinaus; hinter ihr schwankt, offen gelassen, die Tür, und im elektrischen Licht
leuchten Messing und Glas sinnlos einander an.
Sie läuft die Treppe hinab wie eine Traumwandlerin. Tapeten, Bilder,
Geräte, Stufen, Lichtkörper, Gäste, Kellner, Dienstmädchen und Dinge und
Gesichter gleiten gespenstig leer an ihr vorbei. Ein paar Leute staunen auf,
man grüßt, wundert sich, daß sie es nicht merkt. Aber ihre Blicke sind
versperrt, sie weiß nicht, was sie sieht und wohin sie und was sie will, nur
ihre Beine hasten mit einer unerklärlichen Behendigkeit die Treppe hinab.
Irgendeine Schaltung, die sonst ihre Handlungen vernunfthaft reguliert, ist
gerissen, nicht zielhaft läuft sie, sondern nur vorwärts, vorwärts gejagt von
einer namenlosen, sinnlosen Angst. Am Eingang der Halle hält sie plötzlich
mit einem Ruck; etwas wacht da auf, eine Erinnerung, daß man hier sitzt,
tanzt, lacht, heiter beisammen ist, und sofort versucht sie zu fragen: »Wozu
bin ich da? Wozu gekommen?« Und damit zerbricht die Stoßkraft des Raums.
Mit einmal kann sie nicht weiter, undkaum sie stehen bleibt, beginnen mit
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik