Page - 108 - in Rausch der Verwandlung
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daß alles zu Ende ist. Es wird kein klarer und faßbarer Schmerz, es bleibt nur
ein Betäubtsein, innerhalb dessen sie unterirdisch etwas geschehen
schmerzhaft fühlt, so wie man bei einer Operation noch durch die Anästhesie
unbestimmt das brennende Messer fühlt, das den Leib zertrennt. Denn etwas
geschieht, während sie stumm sitzt, die Augen wie leere Löcher auf den Tisch
gebrannt, etwas das ihr Bewußtsein in seiner Lähmung nicht versteht, und
dies ist: das neue, das andere Wesen, dieses künstliche und doppelte der neun
traumhaften Tage, jenes unwirkliche und doch wirkliche Fräulein von Boolen
stirbt wieder in ihr ab. Noch sitzt sie im Zimmer jener andern mit dem Körper
jener andern, ihre Perlen um den gefrorenen Hals, einen scharfen Strich
Karmin auf den Lippen, ihr libellenleichtes geliebtes Abendkleid über den
Schultern, aber schon schauert es fremd über ihrem Leib wie ein Laken auf
einem Leichnam. Es gehört nicht mehr zu ihr, nichts von hier, von dieser
andern, dieser obern, seligeren Welt gehört mehr zu ihr, alles ist neuerdings
fremd und geborgt wie am ersten Tag. Neben ihr steht weiß und glatt gefaltet
mit zarten Daunen das Bett, blühende Weiche und Wärme, aber sie legt sich
nicht hin: es gehört nicht mehr ihr. Rings leuchten die Möbel, atmet stumm
der Teppich, aber all dieses Rundum von Messing, Seide und Glas empfindet
sie nicht mehr als sich zugehörig, nicht den Handschuh an der Hand, nicht die
Perlen um den Nacken – alles gehört jener andern, jener gemordeten
Doppelgängerin, Christiane von Boolen, die sie nicht mehr ist und dennoch
ist. Immer wieder versucht sie wegzudenken von diesem künstlichen Ich an
ihr wirkliches, sie zwingt sich zu erinnern an die Mutter, daß sie krank war
oder vielleicht tot, aber so gewaltsam sie ihr Gefühl auch hinstößt, es gelingt
ihr kein Schmerz, keine Sorge, ein Gefühl überschwemmt alles andere, ein
Zorn, ein dumpfer, gekrampfter, ohnmächtiger Zorn, der nicht heraus kann
und eingesperrt murrt, ein unermeßlicher Zorn – sie weiß nicht gegen wen,
gegen die Tante, gegen die Mutter, gegen das Schicksal, Zorn eines
Menschen, dem ein Unrecht geschehen. Nur daß man ihr etwas genommen
hat, empfindet ihre gepeinigte Seele, nur daß sie fort muß aus diesem selig
beflügelten Ich in eine dumpf am Boden kriechende blinde Larve; nur daß
etwas vorbei ist, unwiderruflich vorbei.
Die ganze Nacht sitzt sie so, eingeeist in ihrem Zorn auf ihrem hölzernen
Sessel. Sie hört nicht durch die gepolsterten Türen das Leben der andern in
diesem Haus, den unbesorgten Atem der Schlafenden, das Stöhnen der
Liebenden, das Ächzen der Kranken, das unruhige Auf- und Abwandern der
Schlaflosen, sie hört nicht durch die verschlossene gläserne Tür den Wind,
der schon morgendlich um das schlafende Haus geht, nur sich spürt sie, ihr
Alleinsein in diesem Zimmer, diesem Haus, diesem Weltall, ein Stück
atmenden zuckenden Fleisches, noch warm wie ein abgerissener Finger und
doch sinnlos und ohne Kraft. Es ist ein hartes In-sich-Sterben, ein Abfrieren
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik