Page - 119 - in Rausch der Verwandlung
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drüben hat ihr sogar angeboten, ob sie jetzt nicht drüben bei ihr ein Zimmer
haben wollte mit Kost und Verpflegung, statt sich allein mit der Wirtschaft zu
plagen. Aber sie hat nicht einmal recht Antwort gegeben, und jeder hat gleich
gespürt, sie will ihn draußen haben. Etwas ist los mit der Postassistentin
Christine Hoflehner, sie fährt nicht mehr wie sonst einmal in der Woche
hinüber in den Singverein und sagt, sie sei heiser. Sie geht seit drei Wochen
nicht mehr in die Kirche, nicht einmal eine Messe hat sie lesen lassen für die
Mutter. Dem Fuchsthaler, der ihr vorlesen will, sagt sie, sie habe
Kopfschmerzen, und wenn er ihr anbietet, einen Spaziergang zu machen, sagt
sie, sie sei müde. Niemand geht sie mehr zu, wenn sie einkauft, tut sie, als
versäume sie den Zug und spricht kein Wort mit jemand, und im Amt ist sie,
die früher sonst als gefällig und hilfsbereit bekannt war, dauernd
unfreundlich, kurz angebunden und sekkant.
Etwas ist mit ihr geschehen, sie weiß es selbst. Als hätte ihr jemand
heimlich im Schlaf etwas Bitteres, etwas Scharfes und Böses ins Auge
geträufelt, so sieht sie jetzt mit einmal die Welt, alles ist häßlich, böse und
feindselig, seit sie es böse und feindselig sieht. Mit Erbitterung beginnt sie
den Tag. Der erste Blick, den sie aufschlägt nach dem Schlafe, trifft auf die
schiefen verräucherten Balken der Mansarde. Alles in dem Raum, das alte
Bett, die schlechte Decke, der strohgeflochtene Sessel, der Waschtisch mit
dem gesprungenen Henkelkrug, die mürbe Tapete, die hölzerne Diele, alles ist
ihr verhaßt, am liebsten möchte sie die Augen schließen und wieder ins
Dunkel hinab. Aber der Wecker erlaubt es nicht und klirrt ihr hart in die
Ohren. Zornig steht sie auf, zornig zieht sie sich an, die alte Wäsche, das
widrige schwarze Kleid. Unter dem Ärmel merkt sie einen Riß, aber es ärgert
sie nicht. Sie nimmt nicht die Nadel, um es zu flicken. Wozu, für wen? Für
diese Bauerntrampel hier ist man noch immer viel zu gut gekleidet. Nur
weiter, nur rasch hinaus aus dem häßlichen Raum und hinüber in das Amt.
Aber das Amt ist nicht mehr, was es war. Nicht mehr der gleichgiltige
ruhige Raum, in dem die Stunden langsam wie auf Rädern lautlos rollen. Wie
sie den Schlüssel dreht und eintritt in das schreckliche stille Zimmer, das auf
sie zu lauern scheint, muß sie immer an den Film denken, den sie vor einem
Jahr gesehen. ›Lebenslänglich‹ heißt er, und ein Gefängniswärter, begleitet
von zwei Polizisten, vollbärtig, hart und unnahbar, führt den Gefangenen,
einen schwächlichen zitternden Knaben, in die kahle vergitterte Zelle. Ein
Schauer war ihr damals wie allen andern Zuschauern über den Rücken
gelaufen, und wieder spürt sie den Schauer, sie selbst ist es ja,
Gefangenenwärter und Gefangene in einer Person. Zum erstenmal hat sie
bemerkt, daß auch hier vergitterte Fenster sind, zum erstenmal empfindet sie
diese weiß getünchten, kahlen Wände des geschäftlichen Zimmers als Kerker.
Alle Dinge haben einen neuen Sinn: tausendmal sieht sie den Sessel, auf dem
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik