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Einleitung:
WiderspruchsgeisteinesBeamtendichters
In seinemMonumentalwerkDerMann ohne Eigenschaften erinnert sichRobert
Musil (1880–1942) so ironischwieanerkennendandeneuropaweitenAusbruch
der Moderne. Die kreativen Impulse undWidersprüchlichkeiten der Jahrhun-
dertwendeerfuhrendurchdas„magischeDatum“einenbesonderenAusdruck:
AusdemölglattenGeist der zwei letzten Jahrzehntedesneunzehnten Jahrhunderts hatte
sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemandwußte genau,
was imWerden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer
Mensch, eine neueMoral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle.
Darumsagte jederdavon,was ihmpaßte. [. . .] Es entwickelten sichBegabungen,die frü-
her erstickt wordenwaren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten.
Siewarensoverschiedenwienurmöglich,unddieGegensätze ihrer Zielewarenunüber-
trefflich. [. . .]Manbegeisterte sich fürdasHeldenglaubensbekenntnisund fürdassoziale
Allemannsglaubensbekenntnis;manwar gläubig und skeptisch, naturalistisch und pre-
ziös, robust undmorbid;man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichenGärten [. . .],
von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven,
menschlichenUrpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Daswaren freilichwider-
sprüchliche und höchst verschiedene Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemeinsamen
Atem; würdeman jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein
wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber inWirklichkeit war
alles ineinemschimmerndenSinnverschmolzen.1
Vieleder imZitatgenanntenMerkmalederModerne,dieGleichzeitigkeitvonTra-
dition undProgression in denKünsten, technologische Errungenschaften,Urba-
nisierung, das Aufeinandertreffen neuer und alterMoralvorstellungen sowie der
sich vollziehende Strukturwandel finden sich so oder ähnlich in den ideologi-
schenundpoetologischenStellungnahmen,DistanzierungenundSelbstverortun-
genRichardSchaukals.
Der 1874 inBrünn (Brno) geboreneDichter, Kritiker,ÜbersetzerundMinis-
terialbeamte gehörte zu den streitbaren literarischen Akteuren der ‚kritischen
Moderne‘.2DassSchaukal biographischwiewerkästhetischnicht leicht einord-
bar ist,magunteranderemandermit seinemTod imJahre1942hinterlassenen
1 Robert Musil: Gesamtausgabe. Bd. 1. Erstes Buch: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von
WalterFanta.Salzburg/Wien2016,S.84–85.
2 Vgl. Allan Janik: Vienna 1900 Revisited. Paradigms and Problems. In: Rethinking Vienna
1900.Hg.vonStevenBeller.NewYork/Oxford2001,S.27–56;vgl.auchMichaelBurri:Theodor
Herzl andRichardSchaukal. Self-StyledNobility and theSourcesofBourgeoisBelligerence in
PrewarVienna. In:RethinkingVienna1900,S. 105–131.
OpenAccess.©2020CorneliusMitterer,publiziert vonDeGruyter. DiesesWerk ist
lizenziertunterderCreativeCommonsAttribution4.0Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110619744-001
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik