Page - 17 - in Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
Image of the Page - 17 -
Text of the Page - 17 -
Biographietheorie und Biographik bezeichnen die theoretischen Perspekti-
ven,AspekteundMethodenbiographischerTexteund ihrerwissenschaftlichen
Darstellungsformen.Dazu gehört auchdie Entwicklung von âSubkulturenâ, die
Themen und Narrative abseits konventioneller Lebensdarstellungen in den
Blick nehmen. Subjektive Biographie, Anti-Biographie oder Gegenbiographie
sindErgebnissekritischerAuseinandersetzungenmitdemThema.WilhelmHe-
meckerbemerkt einenzunehmendproduktivenWiderstandgegendieGattung,
der sich inFormvon âantibiographischenâBiographienĂ€uĂert und fĂŒr denAu-
torenwieDavidEdwinNye stehen.68Der Strukturhistoriker verfasste 1983eine
antibiographisch ausgerichtete Studie ĂŒber ThomasEdison (1847â1931).69 Sein
diskursanalytischerAnsatz, Personenals Symbole zuuntersuchenunddieUn-
tersuchung an die Aussagemöglichkeiten vonDokumenten zu knĂŒpfen, setzte
wesentliche biographietheoretische Impulse. Nye erklÀrt sein biographisches
Experiment folgendermaĂen:âStatt zuversuchen,Edisonzufixieren,entschied
ichmich dafĂŒr, ihn als BĂŒndel vonMöglichkeiten zu betrachten.â70WĂ€hrend
Robert Musil den âMöglichkeitssinnâ als logische Konsequenz und Widerpart
eines um 1930 noch kaum bezweifelten âWirklichkeitssinnsâ literarisch reflek-
tierte,habensicheinhalbes Jahrhundert spÀterdieVorzeichenumgekehrt.Nye
undBourdieu belegen,wie sich in denGeisteswissenschaften eineAuffassung
entwickelte, dieMusil imMannohneEigenschaften ironisch vorweggenommen
hatte:
Wer ihn [den Möglichkeitssinn] besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder
das geschehen, wird geschehen, muà geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte,
sollte odermĂŒĂte geschehen; undwennman ihmvon irgend etwas erklĂ€rt, daĂ es so
sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So
lieĂe sichderMöglichkeitssinngeradezuals die FĂ€higkeit definieren, alles,was eben-
sogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das,
wasnicht ist.71
68 Vgl.WilhelmHemecker: Einleitung. Ingeborg Bachmann zwischenMythos undMetabio-
graphik. In:MythosBachmann. Zwischen InszenierungundSelbstinszenierung.Hg. vonWil-
helmHemeckerundManfredMittermayer.Wien2011,S. 7â16,hierS. 7.
69 David Edwin Nye: The Invented Self: An Anti-Biography, from Documents of Thomas
A.Edison.Odense1983.
70 David Edwin Nye: Nach Thomas Edison. RĂŒckblick auf eine Anti-Biographie [2003]. In:
TheoriederBiographie.GrundlagentexteundKommentar.Hg.vonBernhardFetzundWilhelm
Hemecker.Berlin/NewYork2011,S. 347â360,hierS.353.
71 RobertMusil:DerMannohneEigenschaften,S. 20.
1 Biographie:GattungundTheorieamBeispielRichardSchaukals 17
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik