Page - 67 - in Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
Image of the Page - 67 -
Text of the Page - 67 -
politischen Wendepunkt auf den Markt gebrachten Lebensbeschreibungen
in „vita activa“ und „vita contemplativa“.55 Das dieser Polarität vorange-
hende, besonders aufHerder (1744–1803)undGoethebasierendeHarmonie-
modell setzte Geist undHandlung sowie den Bezug zwischen Ich undWelt
in ein sich gegenseitig bedingendes Wechselverhältnis, wie mit Blick auf
Herders „Fünften Brief zu Beförderung der Humanität“ ersichtlich wird.56
Die in offener Essayform verfassten (biographischen) Textewurden im aus-
gehenden18. JahrhundertalsAuseinandersetzungmitdem(eigenen)KĂĽnstlertum
undseinermoralpädagogischenWirkungbetrachtet,wobeierkenntnistheoretische
FragennachObjektivität undWahrheitsanspruchdiskutiertwurden,dieFriedrich
Schlegelmit seinerAuffassung vomstetenWechsel aus Selbstschöpfungund
Selbstvernichtung theoretischweiterfĂĽhrte.57Das steht imKontext der Selbst-
befragungundSelbstreferentialitätderromantischenIronie,aufdieauchSchaukal
immerwiederBezugnahm.
AbderMitte des 19. Jahrhundert erfuhr jenesHarmoniemodell einenWan-
del, der sich an zwei Georg-Forster-Biographien ablesen lässt: 1797 schrieb
Friedrich Schlegel (1772–1829) in seinem „Fragment einer Charakteristik der
deutschenKlassiker“über Forster (1754–1794): „Für seinenGeistwardieWelt-
umseglung vielleicht die wichtigste Hauptbegebenheit seines Lebens.“58 Die
Persönlichkeit wird also in Einklangmit der geistigen und einer sich dieWelt
aneignenden Triebkraft geschildert – vita contemplativa (Geist) und activa
(Weltumseglung) gehen darin Hand in Hand. Der nationalliberale Historiker
undspätereAbgeordnetederNationalversammlunginderFrankfurterPaulskir-
che, Georg Gottfried Gervinus (1805–1871), wählte für seinen 1843 verfassten
biographischenEssayĂĽber Forster hingegendie vita activa alsNarrativ; Gervi-
nus legtedenFokusaufForsterspolitischeHandlungsbereitschaft.Abderzwei-
tenHälfte des 19. Jahrhunderts fächerte sich die Individualbiographie in zwei
Sparten auf: in die politische Biographie und in die KĂĽnstler- oder Gelehrten-
biographie.59 ImZugediesesDifferenzierungsprozesses entstandeineFormder
politischen Biographik, die historiographisch durchdrungen war und sich in
55 Scheuer:Biographie,S. 55.
56 Vgl. TobiasHeinrich: Das lebendigeGedächtnis der Biographie. JohannGottfriedHerders
„Fünfter Brief zu Beförderung der Humanität“. In: Theorie der Biographie, S. 23–27, hier
S. 25–26.
57 Vgl. Friedrich Schlegel: Athenäum Fragment 51 [1798]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-
Ausgabe.Bd. 2:CharakteristikenundKritiken I. 1796–1801.Hg.vonErnstBehlerunterMitwir-
kungvonJean-JacquesAnstettundHansEichner.MĂĽnchenu.a. 1967,S. 172.
58 Friedrich Schlegel: Georg Forster. Fragment einer Charakteristik der deutschenKlassiker.
In:LyceumderschönenKünste (Berlin), 1.Bd., 1.Teil,S.80–81.
59 Vgl.Klein:Einleitung:BiographikzwischenTheorieundPraxis,S.7.
3 BiographiealsSelbstreflexion 67
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik