Page - 63 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Image of the Page - 63 -
Text of the Page - 63 -
Die neuen „Russophilen“ und ihr Russlanddiskurs 63
Anm. A.B.] entstanden“.41 Diese Hoffnung auf eine geistige Umwälzung, auf
„befreite Kritik“42 sowie auf den ‚neuen‘ Menschen wird aber ständig durch
Beobachtungen Roths relativiert, die den russischen Massen- beziehungsweise
Durchschnittsmenschen als Resultat einer totalen Verstaatlichung und gewal-
tigen Bürokratisierung des Lebens ansehen. Die „geistige Leere“ des russischen
beziehungsweise sowjetischen Menschen, der „niemals ganz Privatmensch“
sein dürfe, der zum „Kollektivismus“ erzogen werde und nicht zum geistigen
„Kombinieren“, der „das primitive Anfangstadium einer öffentlichen Meinung“
erlebe, „die von oben gelehrt und genährt wird“, – das alles wird von Roth „in
der russischen Straße“, in den Zeitungen, in Gesprächen, in der Schule und bei
der Jugend besorgt registriert. Doch diese „allgemeine Nivellierung“43 wird in
seinen Reportagen letztendlich entschuldigt mit dem leitmotivischen Verweis
auf die Zukunft Russlands und die der Revolution: „Es wäre freilich anders
kaum möglich. Vielleicht muß die große Masse zuerst durch die Oberfläche der
Erkenntnis. Sie ist ja kaum einige Jahre befreit von der tiefsten Blindheit!“44 Die
„Entschuldigungen“ und „hoffnungsvollen“ Einschübe sind aber nicht dadurch
zu erklären, dass Roth sich angesichts der sowjetischen Zensur und ihrer Macht
verunsichert fühlte, wie David Bronsen meint.45 Es geht Roth eher um seine
deutschen Leser, um den Rezeptionshorizont der europäischen Intellektuellen,
die er vor Entwicklungsprozessen in der Kultur zu warnen sucht, wie sie sich
auch im Deutschland jener Zeit bemerkbar machen:
vor der Gefahr einer Paral-
lelisierung von Demokratisierung und Nivellierung.
Robert Müllers Bolschewik und Gentleman weist also keine Analyse eines real-
geschichtlichen Phänomens auf, obwohl darin das bolschewistische Russland
im Zentrum steht: „Der Bolschewismus macht Ernst, das ist es. Das Detail ist
unwichtig. Er ist zuerst ein allgemeiner Messianismus östlicher Völker, ein Chi-
liasmus bisher untertaner Schichten, ein Titanismus geistiger Forderer“.46 Robert
Müller ist hier auf der Suche nach „eine[r] ideale[n] aktivistische[n] Gesell-
schaftsform“,47 deren großes Versprechen er im bolschewistischen Russland zu
41 Joseph Roth: Gespenster in Moskau. In: ders.: Werke 2, S. 596–601, zit. S. 601.
42 Ders.: Die Schule und die Jugend. In: ebd., S. 671.
43 Ebd., S.
656.
44 Ebd., S.
601.
45 Vgl. David Bronsen:
Joseph Roth. Eine Biographie. Köln:
Kiepenheuer & Witsch 1993,
S. 284f.
46 Robert Müller:
Bolschewik und Gentleman. In:
ders.:
Irmelin Rose
– Bolschewik und
andere verstreute Texte. Paderborn: Igel 1993, S. 139–208, zit. S. 205.
47 Daniela Magill: Nachwort. In: ebd., S. 209–215, zit. S. 211. Kritisch dazu: Primus-Heinz
Kucher:
Zwischen „West-östlichem Barock“ und Dämonisierung/Asiatisierung des Ostens.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur