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Alexander W.
Belobratow64
erkennen meint
– im Land, das fast ausschließlich aus präformierten Elementen
konstruiert wird, gekoppelt mit seinen Vorstellungen von der „russischen Seele“.
Im „Nachtrag“, einige Monate später geschrieben, unternimmt der Autor
einen Versuch, seine „Prophezeiung“ mit dem Verweis auf die geschichtlichen
Ereignisse zu bekräftigen:
Rußland unter Lenin kann auf außerordentliche Erfolge in außenpolitischer, militäri-
scher und kultureller Hinsicht hinweisen. Es ist komplett geblieben, erzwingt sich die
Anerkennung der westlichen Welt, hat mehrere Feldzüge, zuerst den gegen ein homun-
kulides Polenreich, das von Klavierstimmern, nicht von Politikern geschaffen worden
ist, gewonnen und ist heute der eigentliche Kulturstaat der Welt im seelischen Sinne.
Mißlungen ist nur das konkrete marxistische Programm, in den sozialen und wirt-
schaftlichen Belangen war Rußland nicht so schöpferisch, wie auf den geistigen und
aktivistischen Gebieten.48
Am 24. August 1924, drei Tage vor dem Selbstmord des Autors, erscheint in der
Prager Presse Müllers letzter Russland gewidmeter Essay: Gorki und Lenin, de
facto Müllers Reaktion auf Gor’kijs Lenin-Nachruf: „Am meisten interessieren
ihn [Gor’kij] dämonische Menschen, die ebenso groß im Zufügen als im Ent-
gegennehmen von Schmerz sind wie die Dämonen Dostojewskijs oder die Brü-
der Karamasoff. Ein solcher Mann ist Lenin für Gorki.“49
Für Müller hat aber Lenin nicht primär mit dem Dämonischen zu tun, er
sei eher „ein erstklassiger, monströs fleißiger Beamter seiner Idee“. Die Ver-
knüpfung des Bolschewismus mit den expressionistisch-aktivistischen Idea-
len scheint für Robert Müller passé zu sein: „Von der historischen Rolle, die er
spielt, […] erscheint Lenin dem Europäer uninteressant. Er lässt sich mit der
kulturellen und stilhaften Ergiebigkeit selbst einer Natur wie Mussolini nicht im
entferntesten messen“.50 Es geht auch nicht um die von Doderer formulierte Cha-
rakterisierung vom bolschewistischen Lenin als dem „treuen Knecht des heiligen
Rußland“. „Daß er eine kristallisierende politische Begabung war, das unterliegt
doch keinem Zweifel. Aber das ist Hitler auch, sogar sehr, erste Potenz darin“.51
Strategien literarischer Anverwandlung des fremden Ostens bei Hermann Bahr und
Robert Müller. In:
Dagmar Lorenz/Ingrid Spörk (Hgg.):
Konzept Osteuropa. Der „Osten“
als Konstrukt der Fremd- und Eigenbestimmung in deutschsprachigen Texten des 19. und
20.
Jahrhunderts. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2011, S.
131–146, bs. S.
140f.
48 R. Müller:
Bolschewik und Gentleman. In:
ders.:
Irmelin Rose, S.
139–208, zit. S.
207f.
49 Ders.:
Gorki und Lenin. In:
ders.:
Kritische Schriften III. Paderborn:
Igel 1996, S.
203–
207, zit. S. 204.
50 Ebd.
51 Ebd., S.
206.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur