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Primus-Heinz
Kucher80
der Selbständigkeit“ ausgerufen wird.43 Zugleich errichtet ‚es‘ gerade durch den
Rhythmus der Maschinen im vorgeblichen Interesse für das Ganze neue, despo-
tische Abhängigkeiten, wie es im visionären Schlussbild im Zuge einer Autofahrt
durch die mongolische Steppe unter dem bezeichnenden Titel „Asiate – Dein
Gott wohnt in Detroit“ anklingt:
„Dann wird hier am Westrand des dunkel träu-
menden Erdteils hinter der roten Flagge und im Zeichen des Sowjetsterns Ame-
rikas glatte Sachlichkeit lärmend und triumphierend einmarschieren.“ [AR
193]
Rundts Einschätzungen und Visionen sind in der zeitgenössischen Presse und
Kritik eher auf Skepsis, zum Teil sogar auf offene Ablehnung gestoßen, letzte-
res etwa bei Edwin Rollett in der Wiener Zeitung, der dem Buch einen Man-
gel an Bescheidenheit und eine „Gebärde letzter Erkenntnis“44 vorwarf. In der
Wochenzeitung Der Morgen lösten Rundts Russland-Prognosen dagegen im
Kontext einer ausgreifenden Amerika-Würdigung große Erwartungen aus.45
5 Versuch eines Resümees
Die vorgestellten Beispiele aus maßgeblichen kulturell-künstlerischen Feldern
der Zwischenkriegszeit – expressionistisches Theater, feuilletonistische Kri-
tik, dokumentarischer Film und Reisebericht – verbindet, so sehr im Einzel-
nen unterschiedliche Positionen entwickelt und dargelegt werden, einerseits
ein grundlegendes Interesse an den Wandlungsprozessen in Sowjet-Russland,
andererseits ein weitgehend vorurteilsfreies, im Ansatz sachliches Herangehen
an kulturelle Impulse aus Russland selbst. Stanislawski galt seit der Jahrhundert-
wende als ein wesentlicher Erneuerer dramaturgischer Aufführungspraxis und
sollte dies auch nach 1918, flankiert von Tairow ab 1925, weiterhin bleiben, wes-
halb ihm und dem russischen Theater insgesamt in den 1920er Jahren mit gro-
ßer Aufmerksamkeit begegnet wurde.
Obwohl in der Wiener und österreichischen Kinolandschaft die russische
Filmproduktion nur spärlich präsent war, entwickelte sich spätestens seit Sergej
Eisensteins/Ejzenštejns epochalem Panzerkreuer Potemkin eine an ihm wie an
Vertov inspirierte Montagefilmkunst, für die Leo Lania ein gutes Beispiel ist.
43 Vgl. Simon Huber:
Orientierungsfahrten. Sowjetunion- und USA-Berichte der Wei-
marer Republik. Bielefeld: Aisthesis 2014 (= Moderne Studien, Bd. 17), S. 141.
44 Edwin Rollett: Der Mensch wird umgebaut. In: Wiener Zeitung (5.1.1932), S. 8.
45 N.N.:
Der Globetrotter prophezeit. In:
Der Morgen (18.1.1932), S.
5. Unter den links-
orientierten Zeitungen hat nur die Salzburger Wacht Rundts Russlandbuch im Zusam-
menhang mit anderen Russland-Berichten Aufmerksamkeit geschenkt, während sich
die Arbeiter-Zeitung auf die Rubrik „Büchereingang“ beschränkte.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur