Page - 86 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Image of the Page - 86 -
Text of the Page - 86 -
Jürgen
Egyptien86
meint – wertvollere neue Spezies lebender Wesen, durch den „Kollektivmenschen“,
durch das „Dividuum“ zu ersetzen.9
Außer der Hingabe ans Kollektiv gehört zu den Qualitäten des Maschinis-
ten Uchtomski auch seine revolutionäre Umfunktionierung der Technik. Die
Durchbrechung der zaristischen Linie mittels einer Lokomotive kommentiert
Fischer wie folgt: „[S] o wird die Maschine, der schwarze Dämon, zur Freundin
des Menschen, […] so war es im ‚Panzerkreuzer Potemkin‘, so ist es im ‚Maschi-
nisten Uchtomski‘, so wird es sein in einer sozialistischen Gesellschaft.“ Fischer
sieht daher in diesem Funktionswandel keinen bloß reizvollen filmästhetischen
Einfall, sondern eine „große Wahrheit“. Die stampfenden Kolben gewinnen
Symbolkraft. Daraus erklärt sich der hohe Stellenwert der ausgedehnten Szenen,
in denen im Panzerkreuzer Potemkin (und offenbar auch im Maschinist Uch-
tomski) die Technik autonom agiert. Ihr unwiderstehlicher Rhythmus wird zur
Chiffre der historischen Notwendigkeit. Herausgelöst aus den Herrschaftsver-
hältnissen werden die Maschinen, so der begeisterte Rezensent, zu „Mittel und
Magd des Menschen, der Revolution“. Fischer bewegt sich damit in den Spuren
des sowjetischen Malers und Architekturtheoretikers Vladimir Tatlin, der mit
seiner sogenannten Maschinenkunst die These vertreten hat, die Maschine stehe
„mit der industriellen Entwicklung und dadurch mit dem Proletariat selbst in
organischer Verbindung; ihre Zweckmäßigkeit und ihr Rhythmus stelle also den
wahren Geist des Proletariats dar“.10
Im Hinblick auf diese Nähe zu Tatlins Ästhetik der Technik finden sich in
Fischers Filmkritiken Ansätze zur Ausbildung neuer künstlerischer Kriterien,
die er in programmatischen Aufsätzen wie „Die neue Kunst“ oder „Sprechchor
und Drama“ auch diskutiert hat. Das Ende von Maschinist Uchtomski entspricht
Fischers eigener Neigung zur Allegorisierung:
Dort baut, so Fischer, „unberührt
von Schicksal und Grauen und Blut, der Kaiser ein Kartenhaus. Das Kartenhaus
fällt zusammen. Die Revolution ist unsterblich.“11
2 Streit um Lenin
Im Jahr 1927 zog Ernst Fischer von Graz nach Wien und trat in die Redak-
tion der Arbeiter-Zeitung ein. Eine seiner ersten publizistischen Herausforde-
rungen war der Leitartikel über die Ereignisse des 15. Juli 1927, als bei einer
9 René Fülöp-Miller:
Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des
kulturellen Lebens in Sowjet-Rußland. Zürich–Leipzig–Wien: Amalthea 1926, S. 5.
10 Ebd., S.
138.
11 Ernst Fischer: Maschinist Uchtomski. In: Arbeiter-Zeitung (12.4.1927), S. 8.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur