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E. Fischers Auseinandersetzung mit der Sowjetunion 87
Arbeiterdemonstration vor dem Wiener Justizpalast von der Polizei 89 Men-
schen getötet wurden. Es ist gut möglich, dass dieses schockierende Ereignis für
Fischer die Frage nach Revolution und revolutionärer Gewalt auf die Tagesord-
nung gesetzt hat. Jedenfalls fällt auf, dass er im Herbst 1927 sein Lenin-Drama,
das er 1924 begonnen hatte, wieder aufgriff und mit Essays über Lenin und
Trockij flankierte. Die Motivation, über Lenins Rolle im Zeitraum vom Frie-
densschluss von Brest-Litowsk bis zu seinem Tod ein Stück zu schreiben, war
einem Streit mit dem Chefredakteur der Grazer Zeitung Arbeiterwille entsprun-
gen. Nach Lenins Tod waren am übernächsten Tag nämlich höchst unterschied-
liche Nachrufe im sozialdemokratischen Zentralorgan Arbeiter-Zeitung und
dem steiermärkischen Filialblatt erschienen. Während Otto Bauer in seinem
(ungezeichneten) Nachruf eine weltpolitische und historisch ausgreifende Per-
spektive wählte, ließ der Nachruf im Arbeiterwillen dem parteipolitischen Res-
sentiment die Zügel schießen. Bauer würdigte Lenins „geschichtliche Größe“,12
stellte ihn an die Seite von Cromwell und Robespierre13 und betonte ungeachtet
der Differenzen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten Lenins und der
Oktoberrevolution Bedeutung für die ganze europäische Arbeiterklasse.14 Im
Arbeiterwillen las man am selben Tag, dass Lenin als Spalter der Arbeiterklasse
in die Geschichte eingehen werde, dass, „was er getan, furchtbar, verhängnisvoll
und wahnwitzig“15 gewesen sei und seine „Wahnvorstellung, die Zeit der Weltre-
volution sei da“, verriete, dass sich bei ihm Genie und Irrsinn gemischt haben.16
In seiner 1969 erschienenen Autobiografie Erinnerungen und Reflexionen fügt
Fischer hinzu, dass es ihn zudem empört habe, dass im Arbeiterwillen auf diesen
Nachruf ein Auszug aus dem Lenin-Kapitel des Buches Russische Köpfe gefolgt
sei, das 1923 der menschewistische Exilautor Oskar Bluhm in Berlin veröffent-
licht hatte.17 Fischers scharfe Distanzierung dürfte daher rühren, dass Bluhm
12 [Otto Bauer]: Wladimir Iljitsch Lenin. In: Arbeiter-Zeitung (23.1.1924), S. 1f.
13 Bauer übernimmt hier den Vergleich, der sich in der frühen bolschewistischen
Geschichtsschreibung durch den Historiker Michail Nikolajewitsch Prokowski ein-
gebürgert hat (vgl. Fülöp-Miller, Geist und Gesicht, S. 60).
14 Vgl. [Otto Bauer]: Wladimir Iljitsch Lenin. In: Arbeiter-Zeitung (23.1.1924), S. 1f.
15 [Moritz Robinson]: Lenin. In: Arbeiterwille (23.1.1924), S. 1f.
16 Ebd., S.
2.
17 Fischer irrt, wenn er die Publikation der Artikel im Arbeiterwille als Replik auf Otto
Bauers Nachruf ausgibt. Sie erschienen alle am 23. Januar 1924. Am 25. Januar gibt
es keinen Artikel von Bauer, wie es an dieser Stelle heißt (vgl. Ernst Fischer:
Erinne-
rungen und Reflexionen. Reinbek b.H.:
Rowohlt 1969, S.
187). Im Folgenden werden
Zitate aus Fischers Autobiografie im Fließtext unter Angabe der Sigle [EuR] samt
Seitenzahl nachgewiesen.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur