Page - 96 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
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Jürgen
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Es gibt für uns alle nur eine Gegenwart. Das Wesen dieser Gegenwart ist: Sich
entscheiden.“46 Aus dieser Perspektive verfällt alle Kunst, die keine operative
Funktion erfüllt, dem Generalverdacht der Ablenkung vom Klassenkampf.
Radikale Erkenntnis tut not, die radikale Erkenntnis, daß wir heute nur einer Aufgabe
dienen dürfen, der Verwirklichung des Sozialismus. Alles, was nicht unmittelbar dazu
gehört, geht uns nichts an, mehr noch:
ist zu verneinen. Jede gesellschaftliche und kultu-
relle Erscheinung, jedes Denkresultat und Gefühlsergebnis ist nur danach zu werten, ob
es dem Sozialismus nützt, ob es der Bürgerwelt schadet. Der Luxus einer rein künstle-
rischen, rein ästhetischen Betrachtung ist bedingungslos abzulehnen: […] Heute ist die
Leistung eines Traktorführers in Rußland, eines Vertrauensmannes in Obersteiermark
wertvoller als jede noch so vollkommene „Faust“-Aufführung. Heute ist die Kultur eine
Phrase. Außerdem ist die Kultur für manchen Sozialisten eine Gefahr, sie lenkt ab, sie
schläfert ein, sie täuscht über Erbärmlichkeiten der Gesellschaftsordnung hinweg.47
Die Haltung, die Fischer zur Immunisierung gegen die Gefahr des entschei-
dungshemmenden Differenzierens empfiehlt, ist der Fanatismus.
Mehr als alle Gescheitheit, die alle Möglichkeiten durchdenkt und vor lauter Möglich-
keiten das Notwendige nicht mehr sieht, mehr als alle Begabung, die zu jeder Situation
eine neue Theorie liefern kann, mehr als alle Vollkommenheit des Intellekts, der zu
jedem Argument das Gegenargument und zu jeder Erkenntnis ihre Bedingtheit weiß,
mehr als alle diese fragwürdigen Kultureigenschaften brauchen wir etwas andres:
Fana-
tismus. Der Sozialismus wird nicht siegen durch die Ueberlegenheit seiner Argumente,
sondern durch den Fanatismus seiner Anhänger.48
Im Fanatismus setzt sich unter der Bedingung einer extremen gesellschaftlichen
Krise die Haltung der brennenden Sachlichkeit fort. Am Ende dieses Artikels
wiederholt Fischer Tret’âkovs Gedanken von der Notwendigkeit, eine ganze
Generation um des Sozialismus willen zu opfern. Die Gewissheit des histori-
schen Sieges verleihe den todgeweihten Fanatikern aber zugleich „große innere
Heiterkeit“.49 Man darf darin wohl das beispielhafte Dokument eines sacrificium
intellectus sehen, das die geistige Disposition für Fischers Weg in den Stalinis-
mus offenlegt.
46 Ders.: Hitlerplakat und Weltanschauung. In: Arbeiter-Zeitung (5.5.1932), S. 3.
47 Ders.: Diktatur der Idee. In: Arbeiter-Zeitung (27.3.1932), S. 17.
48 Ebd. In seiner öffentlichen Aufkündigung seiner Freundschaft mit Stefan Zweig hat Ernst
Fischer diesen Gedanken noch einmal in ähnliche Worte gekleidet: „Nicht die geistige
Mannigfaltigkeit der Kulturgesättigten, nur der schlichte Fanatismus der namenlosen
Proletarier bürgt für den Aufstieg des Menschengeschlechtes.“ (E[rnst] F[ischer]:
Lieber
Stefan Zweig! In:
Neue Deutsche Blätter, H.
3/1933–34, S.
134–136, zit. S.
136.)
49 Ders.: Diktatur der Idee. In: Arbeiter-Zeitung (27.3.1932), S. 17.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur