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Lili Körbers Eine Frau erlebt den roten Alltag 119
Trotz schmaler Informationslage wird man sie als oppositionelle, linke Auto-
rin sehen, die sich nicht unbedingt parteipolitisch gebunden hat, jedenfalls
nicht auf Dauer, die sich aber in der linken Szene Wiens, Berlins und anderswo
ausgekannt hat und literarisch aktiv gewesen ist. Sie gehörte wohl auch zu den
Gründungsmitgliedern des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller
Österreichs, als deren erste Schriftführerin sie 1930 in den Bundesvorstand
gewählt wurde. Als sicher gilt, dass sie später wieder ausgetreten ist – aus wel-
chen Gründen auch immer.4 1933 nahm sie an der konstituierenden Hauptver-
sammlung der Wiener Vereinigung sozialistischer Schriftsteller teil und wurde
1934 in den Vorstand gewählt.5
Wohl in ihrer Funktion als Schriftführerin (und Russischkennerin!) des
Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller nahm sie im November 1930
an der II. Internationalen Konferenz proletarischer und revolutionärer Schrift-
steller in Charkow teil, ohne dass darüber bisher nähere Dokumente bekannt
wären. Diesen Russlandaufenthalt wusste sie für sich auch privat zu nutzen: Sie
blieb fast ein Jahr im Land und arbeitete dort in den Leningrader Putilow-Wer-
ken, worüber sie dann, 1931 nach Wien zurückgekehrt, ihren Erstling Eine Frau
erlebt den roten Alltag schrieb.
Seit 1933 gab es für sie in Deutschland keine Publikationsmöglichkeiten
mehr; sie veröffentlichte in Exilblättern wie der Neuen Weltbühne. Ihre „sämt-
lichen Schriften“ landeten auf dem Nazi-Index von 1938.6 Lili Körbers nächste
Bücher orientierten sich am erfolgreichen Erstling: Eine Jüdin erlebt das neue
Deutschland (1934) und Eine Österreicherin erlebt den Anschluß (1938). 1936
erschien die NS-Parodie Sato-San, ein japanischer Held. Ein satyrischer Zeitro-
man. Nach dem sogenannten Anschluss floh Lili Körber 1938 von Wien nach
Frankreich und 1941 von Lissabon nach New York, wo sie sich als Kranken-
schwester durchschlug und auch bis zu ihrem Tod 1982 lebte. Neben wenigen
Zeitungsartikeln konnte sie im US-Exil nur mehr den Fortsetzungsroman Ein
Amerikaner in Russland in der New Yorker Neuen Volks-Zeitung unterbringen.
Von sozialistischen Positionen hatte sie sich seit den stalinistischen Säuberun-
gen in den dreißiger Jahren längst verabschiedet, ihren Erstling später sogar
4 Nach einer Notiz in: Die Linkskurve H. 4/1930, S. 32; vgl. Lemke, Lili Körber, S. 76.
5 Vgl. Lemke, Lili Körber, S. 70; auch die Angaben von Hertling bleiben vage (vgl.
Viktoria Hertling:
Quer durch. Von Dwinger bis Kisch. Berichte und Reportagen über
die Sowjetunion aus der Epoche der Weimarer Republik. Königstein/Ts.:
Athenäum
1982, S.
91–93).
6 Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums. Stand vom 31. Dezem-
ber 1938. Leipzig:
Hedrich 1938, S. 74.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur