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Die „schöne neue Welt“ in Roths „Reise in Rußland“ 135
eines In-die-Zukunft-Reisens und die Auffassung des neuen Staatsaufbaus als
eines Probestücks für die künftige Neugestaltung Europas. Ein solches Wahr-
nehmungsmuster setzt eine konsequente Ausblendung von Themen und Fragen
voraus, die den Rahmen des optimistischen Narrativs über die Erreichbarkeit
des kommunistischen Paradieses hätten sprengen können und als Leerstellen
den Grad ideologischer (Selbst-)Verblendung beziehungsweise der (Selbst-)
Zensur der Reiseberichterstatter an den Tag legen.8
Roths Reportagenreihe steht im krassen Kontrast zur literarischen Produk-
tion der linken ‚Pilger‘, obwohl sich Roth vor seiner sowjetischen Reise zu den
Sympathisanten der sozialistischen Ideen gezählt und diese seine politische Ten-
denz mit dem Pseudonym „der Rote Joseph“ unterstrichen hat. Und doch ist sein
journalistisches Sowjetrussland-Projekt nicht nur durch die Ausstrahlung des
roten Sterns im Osten, sondern, wie Klaus Westermann hinweist, durch die eher
pragmatische Absicht angeregt worden, mithilfe dieses brisanten Themas seine
eigene journalistische Karriere im Westen abzusichern. Bemerkenswerterweise
hat der Schriftsteller am Vorabend dieser Reise behauptet, dass es im nachre-
volutionären Russland noch vieles außer dem „roten Terror“ gebe und dass ihn
zunächst das dortige „menschliche unpolitische Material“ interessiere.9
Demgemäß hat Roth, so Wolfgang Müller-Funk, „das zentrale Feld des
Politischen, wenigstens im engeren Sinn des Wortes“,10 in seinen sowjetischen
Reisereportagen systematisch ausgeklammert, und diese damit als Berichte jen-
seits der ideologischen Links-Rechts-Front profiliert. Dabei ist freilich nicht zu
übersehen, dass Roth sich in den lokalen russischen Verhältnissen vergleichs-
weise gut auskannte
– im Gegensatz zu vielen reisenden Russland-Bewunderern,
deren Blickfeld wegen des Mangels an sprachlichem, kulturellem oder mentalem
Hintergrundwissen stark eingeschränkt war. Als gebürtiger Galizier, der an der
Grenze zum Russischen Zarenreich aufgewachsen war, als Künstler, der den Ein-
fluss der klassischen russischen Literatur in sich aufgenommen hatte, schließlich
als Mensch, in dem Stefan Zweig die russische oder sogar die Karamasow’sche
Moskwe: Dekonstrukzija puteschestwija]. Moskau: RIK „Kultura“ 1993, S. 13–82,
zit. S. 16.
8 Vgl. Anke Gleber: Die Erfahrung der Moderne in der Stadt. Reiseliteratur der Wei-
marer Republik. In:
Peter R. Brenner (Hg.):
Der Reisebericht. Die Entwicklung einer
Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 1989, S. 463–484.
9 Klaus Westermann:
Nachwort. In:
Joseph Roth:
Das journalistische Werk 1924–1928.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990 (= Werke, hg. von Klaus Westermann, Bd. 2),
S. 1023–1028, zit. S. 1026.
10 Müller-Funk, Besichtigung, S. 49.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur