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Die „schöne neue Welt“ in Roths „Reise in Rußland“ 141
mündet. Außerdem veranschaulicht das Lenin-Mausoleum in Roths Darstel-
lung eine Neigung des Sowjetstaates zum ideologischen Drill, dessen zentrales
Element das Zusammenwachsen der Kulte von toten und lebenden Götzen der
Revolution ist. In ihrer Zusammenführung bilden das Hauptdatum (der Feier-
tag der Revolution) als der Gründungstag des neuen Staates, die Militärparade
als „wichtigster“ Festanlass, die Hauptstadt und deren zentrale Repräsenta-
tionsräume, der „Hauptplatz“ und die „Haupttribüne“, einen „sakralen Kern“
des Sowjetimperiums. Dabei erhebt der Schriftsteller die Parade, die er als „das
stärkste militärische Schauspiel der Gegenwart“ kennzeichnet, zu einem plaka-
tiven sowjetischen Eigenbild,19 dessen Quintessenz die perfekte Bewegungsme-
chanik der restlos entindividualisierten Masse ist:
Das ist die einzige Parade, die nichts Überflüssiges hat, keinen glänzenden Knopf, keinen
Theaterblitz, keine eitle Geste. Sie hat nur einen einzigen Traditionsfehler:
Die Soldaten
rufen – zum zweiten Mal – „Hurra“, wenn sie am Kommandeur vorbeigehen. Stehende
Massen sollen, marschierende dürfen nicht den Mund öffnen […] Breite Reihen mar-
schieren, lebendige Wände. […] Obwohl sie immer dasselbe bleibt, ist sie spannend.
Man blickt jeder Abteilung entgegen wie einem neuen Dramen-Akt — und weiß doch
schon, was man sehen wird: grau-gelb, grau-gelb, grau-gelb, Mäntel, Gewehre, Mützen.
Bis die letzten Abteilungen eine unerwartete Abwechslung bringen: nämlich Gesichter.
Es sind Elitetruppen: Eisenbahner, Sappeure, Techniker, Sicherheitstruppen. Die Müt-
zen werden bunt, die Gesichter individuell[.] [RW 627f.]
Während sich die Militärparade auf dem Roten Platz als Muster der neuen, im
Wesentlichen vortotalitären sowjetischen Gesellschaft lesen lässt, bieten Roths
Reportagen über die Wolga-Schifffahrt, die als eine Reise in die Vergangenheit
geschildert wird, ein völlig anderes Russland-Bild. Das Wolgagebiet mit seinen
patriarchalen Lebensweisen, seiner unverdorbenen Natur und zivilisatorischen
Rückständigkeit kommt Roths Erzähler wie eine getreue Kopie der alten russi-
schen Provinz vor, die weder von der Oktoberrevolution noch vom technischen
Fortschritt erfasst wurde. Als eine Reinkarnation der althergebrachten Sünden
des zaristischen Russlands tauchen hier die Lastträger auf, deren Vorgänger der
russische Maler Il’ja Repin mit seinem Gemälde Die Wolgatreidler (russ. Bur-
laki) noch in den 1870er Jahren zum weltweit bekannten tragischen Symbol des
Zarenreiches erhoben hatte.20 Wie in den Zeiten „der Zaren und Kapitalisten“
19 Zur Ästhetik der Parade auf dem Roten Platz vgl. Karl Schlögel:
Festplatz und Richt-
stätte: Der Rote Platz. In: ders.: Terror und Traum. München: Carl Hanser 2008,
S. 280–286.
20 Auf seinem Bild Die Wolgatreidler (Burlaki) (1872–1873), eines der Meisterwerke der
russischen realistischen Malerei, zeigt Repin elf Männer, die unter größter Anstren-
gung ihrer Kräfte und in tiefer Verzweiflung einen Lastkahn an der Wolga ziehen. Die
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur