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Ievgeniia
Voloshchuk142
heben die sowjetischen Burlaki untragbare Lasten, trinken Wodka und singen
ihre ewig traurigen Lieder, und in ihren Städten herrscht weiterhin eine Atmo-
sphäre jahrhundertelangen Stillstands. Die unerschütterliche Rückständigkeit,
der das exotische Lokalkolorit ein „nicht-europäisches“ Gepräge gibt, verblüfft
den Fremden mit zahlreichen alltäglichen Seltsamkeiten, die der Autor sarkas-
tisch als die besten touristischen Attraktionen dieser Gegend bezeichnet.
Als einen Ort, der dem Reisenden eine besonders breite Palette von solchen
„Wundern“ bietet, rühmt Roth die Stadt Astrachan. In deren Beschreibung spitzt
Roth krasse Anachronismen zu, die den ideologischen Diskurs über den sich
rapid modernisierenden bolschewistischen Staat subvertieren. Eines der mar-
kantesten Beispiele dafür ist die Darstellung einer Droschkenfahrt – eine kleine
Szene, in der solche Anachronismen durch sorgfältig gewählte Assoziationen
und Details zu den prägnanten „barbarischen“ Elementen umgedeutet werden:
Die Droschkensitze sind schmal, ohne Rückenlehne, lebensgefährlich, ohne Dach, die
Pferde tragen lange weiße Ku-Klux-Klan-Gewänder gegen den Staub – als gingen sie
zum Turniere. Die Kutscher verstehen sehr wenig Russisch und hassen das Pflaster. Sie
fahren durch die sandigen Straßen, weil ja das Pferd bekleidet ist. Der Fahrgast, der in
einem dunklen Anzug abfährt, kommt in einem silbernen an. Wer einen weißen ange-
zogen hatte, trägt am Ziel einen taubengrauen. Die für Astrachan ausgerüstet sind, tra-
gen wie die Pferde lange Staubmäntel mit Kapuzen. In der spärlich beleuchteten Nacht
sieht man, wie Gespenster von gespenstischen Pferden gefahren werden[.] [RW 610]
Eine Anspielung auf das „unzivilisierte“, „halbbarbarische“ Russland ist wohl
auch die satirische Beschreibung der „Insektenwelt“ von Astrachan, die die
impliziten, für Roths Prosa charakteristischen Parallelen zwischen Fliegen und
vorrevolutionären russischen Verhältnissen21 miteinbezieht:
Die Fliegen, nicht die Fische, machen achtundneunzig Prozent der Astrachaner Fauna
aus […][.] In dicken schwarzen Schwärmen lagern sie auf Speisen, Zucker, Fenster-
scheiben, Porzellantellern, Überresten, auf Sträuchern und Bäumen, auf Kotlachen
harte monotone Arbeit veranschaulicht die unmenschliche Ausbeutung der sozialen
Unterschichten im russischen Zarenreich und spricht ein vernichtendes Urteil über
dessen Gesellschaftsordnung aus.
21 Zu diesen Parallelen vgl. Ольга Козонкова: Образ Росії в оповідній творчості
Йозефа Рота [Olga Kosonkowa: Das Bild Russlands im erzählerischen Werk von
Joseph Roth]. In: Факт як експеримент. Механізми фікціоналізації дійності у
творах Йозефа Рота / за ред. Тимофія Гавриліва [Tymofiy Havryliv (Hg.): Fakt
als Experiment. Die Mechanismen der Wirklichkeitsfiktionalisierung im Werk von
Joseph Roth]. Lwiw:
WNTL-Klasyka 2007 (= Студії австрійської літератури [Stu-
dien zur österreichischen Literatur], Bd. 3), S. 218–244.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur